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Cool down

Tja, es juckt einen halt schon in den Fingern. Im Mindesten muss von «Horrorvision» oder von «Bibbern» die Rede sein, wenn man vom nächsten Winter spricht. Drunter tun wir’s nicht, dabei ist die Sache ganz einfach: Stellt einfach die Energieverschwendung ab und wir kommen ganz gut über die Runden. Aber das miech ja keine Schlagzeile. Moment: Irgendwie beschleicht mich ein ungutes Gefühl, dass ich dasselbe schon mal hier geschrieben habe …

 

Apropos schon mal: Im letzten Jahrtausend, oder genauer gesagt, 1990 ist ein Sachbuch von mir erschienen, eine Doku des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins SIA, mit der Auswertung des wissenschaftlich begleiteten Betriebs von zwei Solarhäusern. Ich sag das jetzt nicht, um gross anzugeben, und Sie müssen auch nicht in die Buchhandlung rennen, das Buch ist vergriffen. Und stinklangweilig. Aber ich muss mich grad wieder mal grandios ärgern. Vor mehr als dreissig Jahren also standen bei uns nachweisbar bereits Häuser, die fast keine Fremdenergie verbrauchten, hingestellt von ganz normalen Architekten und bezahlt von ganz normalen Bauherrschaften. Nur: Wenn seither alle Häuser so gebaut worden wären, müsste die Qualitätszeitung keine derart saublöden Schlagzeilen schreiben wie letzthin, als sie gefragt hat, ob die Züge denn noch fahren würden, wenn im Winter der Strom knapp wird. Im Artikel kam dann heraus, dass er vielleicht gar nicht knapp wird, und dass sich die SBB noch keine Gedanken gemacht haben …

 

Die Panik ist mehrfach hausgemacht, und das Niveau der Panik korreliert jetzt irgendwie nicht so ganz mit dem Niveau der Massnahmenvorschläge. Heizpilze verbieten imponiert mir nicht so schampar, sagt aber viel aus über unsere Wohlstandsverwahrlosung. (Warum zum Beispiel kommt niemand auf die Idee, in der Schweiz eine Solarpanelfabrik zu bauen? Oder die Energiearmut gar nicht erst entstehen zu lassen?) Wir kennen das Rezept gegen Klimawandel, Energieknappheit und fossile Energieabhängigkeit schon seit mehr als einer Generation, haben aber die Umsetzung fahrlässig vergeigt.

 

Andererseits ist es auch nicht hilfreich, wenn man sagt, ich hab’s schon immer gewusst, auch wenn ich das beweisen kann: So etwa hab ich an dieser Stelle vor zweieinhalb Jahren doch tatsächlich behauptet, Wasser werde knapp, und vor einem guten Jahr hab ich vorgerechnet, wie gigantisch das Sparpotenzial beim Strom ist: Kolumnen recyclen ist geil. Aber es geht mir wie der Klimajugend: Die aktuelle militante Arbeitsverweigerung von Politik, Wirtschaft und KonsumentInnen, obschon es keinen einzigen Grund dagegen gibt, Verschwendung abzustellen, Fossile durch Erneuerbare zu ersetzen und sein Konsumverhalten ein winziges Bisschen zu überdenken, die ist, sorry, schon zum Haaröl seichen. Stattdessen muss man sich doofe Artikel in der Zeitung, jahrzehntealte Spartipps und behämmerte Ideen in der Politik anhören, wie etwa die, neue AKW zu bauen. Verzicht ist eine ideologische Kampfparole der Verschwender. Auch das ein Satz, der hier schon mal stand.

 

Wir müssen vom Hyperventilier-Modus herunterkommen. Der Run auf Heizöfeli ist absurd, nicht nur, weil die ja Strom brauchen. Zwischen zwei Grad weniger Raumtemperatur und eiskaltem Duschen liegen Welten, kein Grund für eine vorauseilende Hühnerhaut. Aber das Ende der Unschuld ist da, niemand kann mehr sagen, er oder sie habe es nicht gewusst. Mal gucken, wie lange es geht, bis ich diesen Text wieder recyclen muss.

 

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Nideltörtli

Wir sitzen vor der Pastelaria Milorde – jep, der Mann heisst so – gucken den Tauben beim Balzen zu und trinken den Zmorgekafi (meinerseits «pingato» – getropft, das heisst, mit ein paar Tropfen Milch, man spricht hier sehr poetisch). Zum Americano gibt es ein Pastel de Nata, was man bei uns wohl rustikal als Nideltörtli bezeichnen würde, was etwas unterkomplex ist, denn hier handelt es sich ohne jeglichen Zweifel um das weltbeste Süssgebäck überhaupt, und Milorde ist sein Gott.

 

Genauer gesagt sitzen wir vis-à-vis von Milorde in einer winzigen Grünanlage, quasi Pocketpärkli, und zwischen uns liegt in der Morgensonne die Rua da Graça, eine schmale Einbahnstrasse, die aber immerhin zwei Tramgeleise aufweist. Dort drauf fährt das berühmteste Tram der Welt, die Nummer 28E, ehrwürdige Schrottkisten, die bei den Touris extrem beliebt und entsprechend vollgepufft sind, zu jeder Tageszeit. Manchmal kommt es vor, dass eines der Autos, die fleissig im Halteverbot vor der Kita etwas weiter vorne parken, mit dem Füdli einen Tick zu weit in den Schienenraum ragt, was zur Folge hat, dass das Tram anhalten muss und, nach ebenso ausgiebigem wie folgenlosem Geklingel, die Polizei gerufen wird. Zuerst kommt dann ein Mensch von Carris – die hiesige VBZ –, dann die Stadtpolizei und dann ihr hauseigener Abschleppdienst, welcher kurzen Prozess macht. Derweil stauen sich die Tramwägeli hintereinander auf, die Touris müssen zu Fuss weiter, die Strasse ist komplett blockiert, und wir AnwohnerInnen haben was zu gucken. Der Abschleppdienst scheint sehr gut ausgelastet. Der Autoverkehr ist übrigens hier das Schlimmste. Die Strassen sind oft eng, parkiert wird dennoch überall. Busfahrer – männliche Form durchaus berechtigt – müssen sich durchzirkeln, Nerven aus Stahl haben und Geduld für vier. Aber ich schweife ab.

 

Plötzlich fährt ein Kleinlaster der Stadtverwaltung vor, hält zmitzt auf dem rechten Tramgleis, Warnblinker raus, was ein verkraftbares Risiko darstellt, verkehrt die No. 28E doch ungefähr im selben Rhythmus, wie Ueli Maurer «Luscht» verspürt, nämlich sehr unregelmässig, was nicht nur, aber auch an den Autofüdli im Schienenraum liegt, und es steigen zwei Männer im Übergwändli aus, der eine mit einer Schaufel, und der andere krallt sich einen Plastiksack von der Ladefläche. Sie gehen zu einem Megaschlagloch am Strassenrand zwei Meter vor dem Auto, kippen eine saftige Ladung Fertigmischung Asphalt mit Kies ins Loch, trampeln ein paarmal darauf herum, schaben den restlichen Kies weg, klopfen das Ganze mit der Schaufel flach, steigen wieder ins Auto – und nach ungelogen 30 Sekunden ist das Schlagloch repariert.

 

Wir trinken aus und nicken uns anerkennend zu: Bei uns in Zürich hätte das zwei Monate Planung, eine Submission, einen stadträtlichen Budgetantrag, eine Strassensperrung und drei Wochen Baustelle gebraucht. Aber das hier ist nicht Zürich, das hier ist Lissabon. Und es ist ohne jeglichen Zweifel die schönste Stadt der Welt. Auch wenn sie nach gebratenen Sardinen stinkt, deutliche Merkmale der Gentrifizierung und einen beunruhigenden R-Wert aufweist. Aber wo derart feine Nideltörtli gebacken werden, da sind auch wir nachsichtig. Und, ach ja: Nach einer Woche hat sich der Asphaltflick leider schon wieder mächtig abgesenkt, sodass die Tausenden von Velo-Esskurieren, die täglich vorbeibrausen, einen wilden Bogen darum machen müssen. Aber das schreibe ich jetzt nur hin, damit Sie nicht so neidig sein müssen.

 

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Frauenparkplatz

Was folgt, ist nur eine kleine Geschichte, aber ich finde, sie sollte unbedingt erzählt werden: Die Grossmutter spaziert mit ihrem sechsjährigen Enkel von der Bushaltestelle nach Hause. Auf ihrem Weg kommen sie am Sitz eines grossen Konzerns vorbei, der vor dem Haus einen eindrucksvollen Parkplatz hat.

 

Nahe am Haupteingang der Firma befinden sich ein paar Frauenparkplätze. Die Abkürzung führt sie quer über den Platz, und wie sie grad auf der Höhe des Parkplatzes sind, fährt ein flotter Porsche an ihnen vorbei, biegt auf den Parki ein und parkiert mit Schwung mitten auf einem dieser Frauenparkplätze.

 

Aussteigen tut ein flotter Junker in feinem Tuch. Er schliesst seinen Porsche ab und will sich grad Richtung Haupteingang bewegen, als er von der Grossmutter zurückgepfiffen wird mit dem höflichen, aber deutlichen Hinweis, dass seine Karre auf einem Frauenparkplatz stehe.

 

Und was passiert? Der flotte Mann guckt irritiert hin, entschuldigt sich ein erstes Mal, steigt in seinen Wagen, parkiert um, steigt wieder aus, entschuldigt sich noch ein paar Mal, es sei keine Absicht gewesen und er habe das vollständig übersehen, und dann geht er seinen Geschäften nach.

 

Der Kleine ist baff. Dass seine Nana die beste aller Welten ist und ein bisschen mehr kann als andere, hat er schon immer gewusst. Genau genommen kommt sie in seinem Weltbild grad knapp nach CR7. Sehr knapp. Aber dass sie es fertigbringt, quasi mit einem Satz einen Porsche(!)fahrer dazu zu bewegen, dass er seinen Porsche umparkiert – das grenzt an Zauberei.

 

Welchen Zauberspruch die Grossmutter genau verwendet hat, hat er allerdings nicht verstanden, also fragt er nach, und die Nana erklärt ihm, was ein Frauenparkplatz ist und dass er eben darum nahe am Eingang situiert ist, damit die Gefahr, überfallen zu werden, geringer ist. Hoffentlich. Das wiederum leuchtet dem Kleinen überhaupt nicht ein. «Aber Nana», meint er, «wenn du überfallen wirst, musst du dich eben verteidigen.» Und untermalt seine Ausführungen mit entsprechender Gestik, quasi frisch vom Kindergartenpausenplatz.

 

Die Grossmutter sieht ein, dass hier mit Argumenten wenig auszurichten ist, da der Erlebnishintergrund des Enkels inkl. Lebenserfahrung logischerweise mehr als nur ein bisschen abweicht, und sie schlägt ihm daher ein Spiel vor: «Du bist die Frau, parkierst dort hinten, weit weg, und dann willst du zum Eingang laufen. Und ich versuche, dich zu überfallen.»

 

Gesagt, getan. Die Sache ist angenehm gruselig, und obschon der Enkel weiss, dass er gleich «überfallen» werden soll und er darum natürlich speziell wachsam ist, gelingt es der Grossmutter, sich anzuschleichen und ihn zu schnappen, und das war’s dann mit dem sich Verteidigen, denn die Nana ist grösser und stärker.

 

So war das, auf dem Parkplatz des grossen Konzerns. Was der Enkel übrigens nicht fragte, ist, warum es überhaupt Frauenparkplätze braucht, aber das ist eine andere Geschichte. Und die Moral von dieser Geschicht’? Nun, wissen tun wir’s ja nicht genau, aber ich hoffe mal: Zwei Junker, die etwas gelernt haben.

 

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Biblische Plagen

Und der Bundesrat dachte eigentlich, dass es gut war. Aber siehe, da kam eine grosse Unruhe übers Land, und die Trychler schrien auf dem Bundesplatz gen Himmel, und der Bundesrat erschrak und sprach: «Covid-19 ist vorbei! Gehet hin in Frieden und macht, was euch gelüstet.» Das war im Februar. Und er hub an und sprach: «Wir waschen unsere Hände in Unschuld. Feiert Partys, drängelt euch in Menschenmengen, besabbert euch im Tram, hustet euch ins Gesicht, ihr seid frei, wie die Väter waren. Nur eines dürft ihr nicht tun: Füllet nicht die Spitäler, und wenn doch, nicht die Intensivstationen, jammert nicht über Long-Covid, wenn ihr daran leidet, applaudiert weiter dem Pflegepersonal, lasst den Erzengel Engelberger endlich in Ruhe, und esset vor allem nicht vom Baum der Erkenntnis, wobei die Trychler dürfen das, denn bei denen nützt es eh nichts, Halleluja.»

 

Und der Bundesrat sah, dass es gut war. Die Toten starben weiterhin mit und nicht an, und abgesehen davon waren sie eh schon im sterbefähigen Alter. Und siehe, die ewigen Besserwisser wurden ruhig, denn es gab keine Übersterblichkeit oder sonst eine statistische Anomalie, sondern es herrschte Ordnung bei den Zahlen. Das Volk soff und grillte, dass es eine Freude war, und übte sich in endloser Eigenverantwortung. Die Viren mutierten, was das Zeug hielt, aber auch sie hielten sich, wie alle Geschöpfe, an die zehn Gebote («Du sollst nicht die Intensivpflege beanspruchen!»). Und das Lamm frass nicht den Löwen, und die Vulnerablen hielten die Fresse und keuchten friedlich vor sich hin. Der Bundesrat schaute über das Land, und es herrschte Freude in ihm, und er konnte sich endlich dem leicht belasteten Verhältnis zu den USA widmen (Scheissoligarchen!). Und wenn die Zweifel den Bundesrat plagten, schaute er nach China und dann wurde er wieder schampar froh, denn die kacken dort grad voll ab und machen es nicht besser. Oder die in Dänemark, oder die in Schweden, oder wo die nordischen Streber halt sonst überall zu Hause sind.

 

Aber dann beliebte es dem Herrn, ein neues Virus zu senden, tausendmal ansteckender als das letzte. Das war im März. Und der Bundesrat hub an und sprach: «Für die meisten bekannten Virusvarianten besteht bei vollständiger Impfung weiterhin ein hoher Schutz gegen schwere Krankheitsverläufe. Für einzelne Varianten sind noch keine abschliessenden Erkenntnisse vorhanden.» Und siehe, so übte er sich weiter im Blindflug, denn da sich gar niemand mehr testen liess, war auch die Datenlage mehr als vorbiblisch, und verlässliche Aussagen waren so rar wie Impfstoff in Afrika. Denn der Geist weht, wo er will, und manchmal will er nicht so ganz über den Behörden wehen. Aber weiterhin litten nur die Alten unter der ordentlichen Lage, und von denen gab es ja eh genug, und so mancher Pflegeheimplatz konnte in diesen schwierigen Zeiten zwei-, dreimal belegt werden, Halleluja!

 

Und der Bundesrat liess es Sommer werden über dem Land, die Wohnwagenparks füllten sich, die Flieger flogen, die Grills glühten, die Krankheitsverläufe blieben beruhigend milde, und die Impfeinrichtungen im ganzen Land wurden abgebaut, weil nichts wichtiger ist als die Hoffnung. Und der Bundesrat sah, dass es gut war, denn niemand hatte bemerkt, dass seine Durchseuchungsstrategie in die Hosen gegangen war.

 

Und dass der Herbst kommen würde, das konnte ja nun wirklich niemand voraussehen, und dass das Virus cleverer ist als der Bundesrat, dafür kann es ja auch nichts, Amen.

 

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Bedrohungslage

Eine befreundete Tessiner Hotelière erwähnte letzthin, eigentlich habe sie im Moment nur zwei Probleme: Personalmangel und Wassermangel. Das Tessin trocknet gerade aus, und auch wenn es ein bisschen regnet, wird es nicht grundsätzlich besser. Denn der Wassermangel so ziemlich überall im, haha, «Wasserschloss Europas», nach lächerlich wenigen Wochen ohne Regen, ist systemisch. Und bei Wasser hört der Spass auf.

 

Im Moment schreit alles auf beim Gedanken, sich einen Pullover mehr anzuziehen, weil wir jetzt solidarisch und tapfer auf russisches Gas verzichten sollten. Grosser Mist! Was die Grünen immer nur abgehoben herbeigeschwatzt haben, nämlich, dass man nicht beides haben kann, Verschwendung und Ethik, wird plötzlich greifbare Realität. Wir müssen uns zwischen Solidarität und kuscheligen 25 Grad entscheiden! Dabei geht es nur um etwas weniger Komfort. Beim Wasser geht es um die Existenz. Aber lesen wir Schlagzeilen in der Zeitung? Im Gegenteil, wir spülen unsere Scheisse mit Trinkwasser weg.

 

Was genau uns eigentlich existenziell bedroht, ist überhaupt nicht klar. Rationale Antworten gibt es zwar viele, aber keinen Konsens. Das EDA spricht beim Stichwort Bedrohungslage nur von «diffusen Risiken». Der Sicherheitspolitische Bericht 2021 des Bundesrates wird zwar präziser, listet aber beliebige Gefahren auf und liefert keine konkreten Szenarien. Die Folge dieser Unsicherheit ist hingegen klar: Die Stahlhelmfraktionen kriechen aus ihren Schützengräben und träumen von Aufrüstung (unbedingt Patrouille Suisse erhalten!). Dabei wäre es gar nicht so schwierig festzulegen, was unser Leben akut, massiv und vor allem: garantiert bedroht. Spoiler: Russische Panzer sind es eher nicht. Man muss ganz woanders suchen.

 

Den Wassermangel hab ich schon erwähnt. Ebenso schlimm ist das Insektensterben. Nicht nur, weil in der Folge davon die Vögel hopsgehen, sondern auch, weil die Insekten, wer es denn unbedingt neoliberal monetarisiert braucht, enorme, unverzichtbare und unersetzliche Naturdienstleistungen erbringen. Menschen auf Bäumen, die mit Pinseln Blüten bestäuben, sind nicht die Lösung. Unsere Pestizidlandwirtschaft schon gar nicht. 40 Prozent aller Insekten sind bei uns bedroht oder bereits ausgestorben. Unwiderruflich. Das bedroht uns am anderen Ende der Nahrungskette direkt und existenziell.

 

Womit wir nahtlos bei einer weiteren Bedrohung sind: Tipping Points. Kippmomente. Gibt es in jedem System, auch im System Erde. Mit dem Klimawandel, falls wir nicht zackig Gegensteuer geben, immer mehr. Sie führen alle zu irreversiblen Katastrophen. Um nur ein paar Schlagzeilen der letzten Wochen zu nennen: Aussterben ganz vieler Fischarten wegen zu warmen Meeren, Emission von Riesenmengen Methangas wegen auftauendem Permafrost, Abschmelzen der Antarktis wegen massiv zu hoher Temperaturen. All das verstärkt die Ursachen, die Gleichgewichte kippen: Wirkungen sind die neuen Ursachen.

 

Die Liste wäre noch lang, aber mir fehlt hier der Platz. Ich müsste noch über die Massentierhaltung reden, die grösste Bedrohung der globalen Ernährung. Über den laufenden Demokratieabbau in diversen westlichen Staaten. Über die zunehmende Ungleichheit, der grössten Bedrohung des sozialen Friedens. Über die Abhängigkeiten in den medizinischen Lieferketten, die uns während der Pandemie bedrohlich aufgefallen sind… – aber ich sehe, Sie haben schon genug. Zur Erholung einfach die Webseiten des EDA oder des VBS aufsuchen. Alles wird gut.

 

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Krieg und Hunger

Langsam fügt sich so einiges zusammen. Der Krieg in der Ukraine ist eine Katastrophe, aber so ganz nebenbei, wenn diese Bemerkung denn erlaubt sei, unterstreicht er einige für uns lebenswichtige Zusammenhänge. Etwa bei der Nahrungsmittelproduktion. Die alten Gewissheiten (hier zum Beispiel: Hunger ist global überwunden) sind zwar schon lange keine mehr, aber dass es ausreicht, dass die Welt sich auf eine Nahrungskrise hin bewegt, nur weil ein einziges Land als Getreideproduzentin ausfällt, ist doch erstaunlich. Und macht einer neuen Gewissheit Platz: dass wir es falsch angehen.

 

Nun ist das nicht ganz neu, es wird einfach gerade brutal bestätigt. Die Art und Weise, wie wir – bescheiden wir uns mal auf die Schweiz – uns ernähren, hat keine Zukunft. Wir verschwenden zu viele Kalorien. Einerseits mit einer falschen Produktion, die zu intensiv ist, also zu viel Fremdenergie, Umweltgifte und Kunstdünger benötigt sowie einseitig auf die Tierhaltung bzw. Fleischerzeugung ausgerichtet ist, was bekanntlich viele Kalorien ‹vernichtet›, die uns dann fehlen. Andererseits immer noch, und mehr denn je, durch Foodwaste.

 

Wie einfach es wäre, hat Agroscope, das Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung, in einer Studie gezeigt. Fazit: Die Schweiz kommt ohne Nahrungs- oder Futtermittelimporte aus. Wir können die gesamte Bevölkerung ernähren, ohne dabei Abstriche beim Naturerhalt, der Bodenschonung oder der Artenvielfalt in Kauf nehmen zu müssen. Selbstverständlich geht das nur mit fleischarmem Essen, aber Tiere gibt es weiterhin in der Landwirtschaft und sogar auf dem Teller, ca. 40 Prozent von heute, für all jene, die nicht verzichten wollen. Es gibt mehr Härdöpfel und weniger bis gar keinen Reis. Oder mehr Birnen und weniger Orangen. Wer Himbeeren im Winter als unverzichtbare kulturelle Errungenschaft oder Fortschritt hält, der oder die wird fluchen. Wer auf seinem Recht pocht, weiterhin 322 Kilo noch intakter und konsumfähiger Nahrungsmittel fortzuschmeissen, dem oder der ist dann allerdings nicht mehr zu helfen. 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel werden in der Schweiz pro Jahr vernichtet. Das ist eigentlich Skandal genug für mich, es braucht keinen zusätzlichen Krieg, der die SVP dazu bringt, nun auch noch die letzten Schmetterlinge mit mehr Umweltgift eliminieren zu wollen. (Weil die uns das Getreide wegfressen?) Das ist unglaublich dumm und zeugt von einer entsetzlichen Ignoranz der Natur gegenüber.

 

Apropos Natur: Der neueste IPCC-Bericht zum Thema «Eindämmung des Klimawandels» macht unter anderem zwei Aussagen, erstens, dass die Treibhausgas-Emissionen nicht abgenommen haben, und zweitens, dass die Auswirkungen davon zumeist irreversibel sind. Wir haben es zwar geahnt, aber nun ist klar: Wir werden mit dem Klimawandel leben müssen, und was wir heute davon erleben, ist nur der Anfang. Getreidelieferungen aus der Ukraine würden so oder so mittelfristig abnehmen, aber wer optimistisch sein will, kann sich ja einreden, dass sie neu durch Lieferungen aus Sibirien ersetzt werden. Landwirtschaft, so das IPCC, ist einer der Schlüsselbereiche, wenn es um den Krieg gegen den Klimawandel geht. Denn, und diesen Satz zitiere ich am besten gleich im Original: «If global CO2 emissions continue at current rates, the remaining carbon budget for keeping warming to 1.5°C will likely be exhausted before 2030.» Krieg und Hunger: Sie gehen Hand in Hand. Egal über welche Zusammenhänge.

 

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Nur Theater

Weiss eigentlich noch irgendjemand, warum es im Rondell auf dem Bellevue ein Café hat und seit wann? Früher war da nur ein ödes Tramhäuschen. Aber am 12. Dezember 1980 übergoss sich die junge Silvia Z. am Bellevue mit Benzin und zündete sich «aus Protest gegen das eiskalte moralisch-politische Klima und die Unterdrückung der Jugendbewegung an», um es in den Worten der Agentur Keystone zu sagen. Es war in der Tat ein Protest gehen die unsägliche Behandlung der Jugend und gegen einen skrupellosen Stadtrat, dem übrigens auch die heute allseits sehr verehrte Emilie Lieberherr angehörte.

 

Selbstverbrennung. Mitten in Zürich. Das gabs vorher und nachher nie mehr. Und wie Keystone weiter berichtet: «Silvia stirbt im Spital an ihren Verbrennungen. Jugendliche stellen beim Möwenbrunnen am Bellevue und im Rondell ein Memorial mit Kerzen, Blumen, Zeichnungen und Abschiedsworten für Silvia auf.» Genau. Und die Stadt gab sich alle Mühe, die Gedenkstätte jede Nacht zu räumen, mehrmals – und dann gab sie der VBZ subito die Erlaubnis, aus dem öden Tramhäuschen einen schicken Kommerztempel zu machen. Das ist er heute noch.

So viel zum Thema «lieu de mémoire».

 

Mir passt vieles nicht, was in den letzten Monaten zum Thema des Sich-Erinnerns geschrieben und gesagt wurde. Das meiste war verlogen und entlarvend. Der einzige Konsens ist: Diese Stadt hat, so wie das Land auch, ein gewaltiges Problem mit der Erinnerungskultur und der Aufarbeitung der Vergangenheit. Aber eins ist sicher: Mit roten Plüschsitzen und goldfarbigem Stuck in einem veralteten Theatersaal hat das rein gar nichts zu tun. Die Geschichte, auch die Erinnerung, wird immer von den SiegerInnen geschrieben, auch in Zürich. Das AJZ, ein «lieu» der 80er-Bewegung, wurde vorsichtshalber 1982 «unter grossem Polizeischutz» geschleift.

 

Mich hätte es ja gewaltig gejuckt, all die ParlamentarierInnen, die sich da grossartig auf die Widerstandskultur im Pfauentheater zur Nazizeit bezogen, zu fragen, ob sie denn überhaupt einen einzigen Namen nennen könnten. Ob sie sich an eine einzige Tat erinnern könnten, die dank dem Schauspielhaus möglich war. Und ob sie wissen, was die Stadt und vor allem die Landesregierung in derselben Zeit so alles an Anpassungsleistung unternommen haben, inklusive Zensur und Kollaboration. Und ob das auch erinnerungswürdig sei.

 

Womit wir nahtlos zum Gebäude gleich ums Eck kommen, dem Erweiterungsbau des Kunsthauses. Dazu muss ich weiter ja nichts mehr sagen, dieses Trauerspiel ist bekannt, aber auch hier war die Verdrängungsleistung im Gemeinderat beachtlich, dieses Mal von bürgerlicher Seite. Und man könnte weitere lustige Beispiele anführen, etwa vom vergeblichen und jahrelangen Versuch eines BürgerInnenkomi­tees, Maurice Bavaud, dem leider gescheiterten Hitler-Attentäter, ein Denkmal zu ermöglichen, während der Tyrann Hans Waldmann an prominenter Lage eine Statue hat, obwohl niemand mehr weiss, wer das ist und was sein Beitrag zur Geschichte war. (Ich verrat’s Ihnen: Im Wesentlichen Terror und Unterdrückung.)

 

Erinnerung hat nur selten etwas mit gebauten Orten zu tun. Und gebaute Orte können, siehe Rondell, umgekehrt sehr wohl ihre Erinnerung verlieren. Wichtig sind nicht Steine, wichtig ist die Aufklärung und die Aufarbeitung, kurz, die Auseinandersetzung mit der Geschichte. Mein kleiner Beitrag: Ich habe seit 40 Jahren keinen Fuss in dieses Café am Bellevue gesetzt. Ein winziger Gruss an Silvia. Vergessen wird nicht.

 

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Stell dir vor, es ist Krieg

Es muss wohl im Gymi gewesen sein, wo mir Paul Celans Frage, ob man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben könne, erstmals begegnet ist. Und Brechts Gedicht an die Nachgeborenen mit der Frage, «Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist», was dasselbe meint. Ich verstand, was das bedeutet, aber ich begriff es nicht. Selbstverständlich nicht. Zwei Jahrzehnte später gab mir die Realität Nachhilfe. Krieg in Europa, nur einige hundert Kilometer von unserer Grenze entfernt, ist bereits im Jugoslawien der 1990er-Jahre brutale Wirklichkeit geworden. Das Entsetzen hier war gross, es gab dort erstmals seit 1945 wieder Konzentrationslager. Wir fragten uns, was wir tun können. Die Antwort war ernüchternd. Und die Einsicht wuchs schon damals, dass die kulturelle Kruste auf unserer Gesellschaft dünn und brüchig ist. Nachbarn schlachteten einander ab, es gab Massaker und Massengräber, jeglicher zivilisatorische Fortschritt schien innert Tagen und Wochen pulverisiert worden zu sein. Die Frage, ob das auch uns passieren könne, stand wie ein Elefant im Raum. Und heute stelle ich mir die Frage, ob man noch Kolumnen schreiben darf, und wenn ja, worüber. Klar ist aber auch, dass nicht reden über den Krieg auch nicht hilft.

 

Kriege sind erschütternd konstant. Sie werden immer an der Bevölkerung vorbei entschieden und befohlen. Kein Krieg würde auf demokratische Weise zustande kommen. Niemand will Krieg. Nur die Machthabenden wollen ihn. Aber auch die Reaktion auf Kriege ist konstant, konstant unvernünftig. Es scheint unausrottbar zu sein, dass wir aus einer verständlich emotionalen Haltung heraus genau das Falsche machen. Etwa all die Rufe nach Aufrüstung und – es war zu erwarten – nach einem Kampfjet «jetzt erst recht». Die Grünen haben es auf den Punkt gebracht: «Dieser Krieg ist nicht ausgebrochen, weil die Schweiz oder Europa oder die Nato zu wenig Geld in ihre Armeen investiert haben.» Ich habe nichts dagegen, wenn man sich nun über die militärische Resilienz der Schweiz Gedanken macht und auch darin investieren will. Vermutlich ist es geradezu Pflicht des Bundesrates, das zu tun. Aber ich habe sehr wohl etwas gegen die Instrumentalisierung des Ukrainekrieges. Zwingend wären ebenso hohe Investitionen in die Bewältigung und Abwehr anderer grossen Katastrophen, wie etwa des Klimawandels, weil die Schweiz durch solche Katastrophen sehr viel mehr und noch akuter bedroht wird.

 

Militärisch macht ein Bombenflugzug keinen Sinn, in der Ukraine wurden zuerst alle Pisten und Flugabwehrstellungen ausgelöscht, per Knopfdruck. Handlungsspielraum haben wir dagegen bei der Frage, wie wir möglichst viele Abhängigkeiten reduzieren können. Im Vordergrund stehen also die Energieversorgung, die Cybersicherheit oder die Informationssysteme. Und wenn wir den Blick gegen Westen richten, wo vor gut einem Jahr der Sturm auf das Capitol bürgerkriegsähnliche Bilder geliefert hat – auch das eine Sache, die wir nie, aber auch wirklich gar nie für möglich gehalten hätten –, während der noch amtierende Präsident 500 Meter vom Schauplatz entfernt die Leute aufhetzt, dann sehen wir, dass Resilienz mehr mit demokratisch stabilen Strukturen, Befindlichkeiten und Überzeugungen zu tun hat als mit dem Versuch, den Rüstungskonzernen dieser Welt noch mehr Geld in den Rachen zu stopfen. Aufrüstung führt uns regelmässig an den Rand von Katastrophen – mehr davon ist genauso irr wie der Krieg selber.

 

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Nach der Wahl

Das Volk hat immer recht. Das muss man wie ein Mantra vor sich hin brabbeln, wenn man sich nach diesen Kommunalwahlen erstaunt die Augen reibt. Denn dass der Freisinn sogar noch zulegen kann, nach diesen vier Jahren voller Nonsens, Arbeitsverweigerung, juristischen Saubannerzügen, Inkompetenz, mieser Rhetorik und augenquälenden Krawatten, das weist, wie eine gute Freundin meinte, die nicht als schlechte Verliererin dastehen möchte, aber trotzdem die Laune nicht verloren hat, klar darauf hin, dass sich auch Nicht-Leistung lohnt. Quasi Meritokratie auf freisinnig. Fakt ist: Die beiden FDP-Stadträte besetzen die beiden Schlusslichter der Skala, und die dritte Kandidatin positioniert sich, noch hinter einem jungen Neuling, weit draussen im Schilf. Peinlich. Bezeichnend ist, dass der Parteipräsident das auch noch als Erfolg verkaufen muss; man ist im stolzen Freisinn mittlerweile offensichtlich mit ganz wenig zufrieden. Dasselbe gilt ferner für die Mitte – bitteschön, für was? –, nur würde ich dort sagen, dass deren Abschneiden der Beweis dafür ist, dass es eben doch keinen Gott gibt. Oder nur einen mit sehr viel Galgenhumor.

 

Das Beste am Wahltag war, dass die linke Mehrheit weiterhin besteht. Es ist mir wurst, wie komfortabel sie ist, Mehrheit ist Mehrheit. Und da die linke Zusammenarbeit traditionell gut ist, egal, wie das in den letzten Monaten ausgesehen haben mag, ist das die Nachricht, die mir persönlich den Tag gerettet hat, selbstverständlich neben dem Abschneiden unserer Jungen Grünen und der auch bei uns beobachtbaren Tatsache, dass die Frauen auf den Listen in der Tendenz nach vorne gereicht wurden. Es ist nicht an mir als Jungrentner, den Jungen zu sagen, was sie tun müssen, aber es wäre gut, wenn sie sich im Gemeinderat querbeet vernetzen würden. Bis anhin war da nämlich kaum etwas sichtbar. Wie weit Jungsein ein Programm ist, werden wir sehen. Ich glaube daran.

 

Kaum beachtet, aber bedenklich: Die GewerkschafterInnen sterben im Rat aus. Immer weniger der Gewählten sind gewerkschaftlich organisiert, viele der jetzigen – mir fallen grad sechs Beispiele ein – werden den Rat verlassen. Damit verliert eine weitere Interessengruppe, die traditionell durchaus interparteilich formiert war, inklusive GLP, CVP und SVP, an Stärke und Bedeutung. Man kann zwar schon sagen, dass das städtische Personal einen solchen Support nicht zwingend nötig habe, aber gut ist das dennoch nicht. Und im Interesse der Gewerkschaften kann es sowieso nicht liegen.

 

Im Resultat vom Sonntag sehe ich wirklich keinerlei Signal dafür, dass wir nicht so weitermachen sollten wie bisher, wobei mir die Stilfrage schnuppe ist. Es ist weit und breit nicht auszumachen und gab auch keinen einzigen Hinweis, dass die brennenden Themen Klima, Wohnen, Mobilität, öffentlicher Raum, Begrünung, Ungleichheit oder Armut nicht mehr wichtig wären. Dass die Linke auch Erfolge hatte, gerade in der Klima- und Energiepolitik, beim so genannten Verkehrskompromiss, in der Raumplanung und nicht zuletzt bei der Bewältigung der Pandemie, ging völlig unter oder wird jetzt kleingeredet.

 

Ach ja, und ein letztes noch: Warum spricht man in der Stadt Zürich despektierlich von «Durchregieren», wenn die politische Mehrheit erfolgreich das tut, wofür sie vom Volk gewählt wurde, und wenn das die Bürgerlichen in den anderen 2147 Gemeinden, fast allen Kantonen und beim Bund machen, jault niemand auf? War ja nur eine Frage. Aber pass auf: Das Volk hat auch in Zürich immer recht.

 

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Revolution

Stell dir vor, es ist Revolution, und keine guckt hin. Oder es scheint allen egal. In den Medien stand so gut wie nichts, nur die alte Tante hat etwas säuerlich gegörpst. Über den Biber, der letzthin einen Hund verprügelt hat, war wesentlich mehr zu lesen. Aber dass die grösste Stadt der Schweiz und zugleich deren Wirtschaftsmotor in 18 Jahren aus der fossilen Wirtschaft aussteigen wird, war kaum eine Schlagzeile, geschweige denn eine ausführliche Berichterstattung oder gar eine Sonderbeilage wert. Auch wenn das eine Revolution ist. Zwar von Links-Grün losgetreten, aber sogar die traditionell mit der Gasindustrie verschweisste FDP – ihr Fraktionschef im Gemeinderat ist einer der wichtigen Lobbyisten der Branche im Nationalrat und ihr Stadtrat gleichzeitig Verwaltungsratspräsident der Gasversorgungsfirma von Zürich – macht gute Miene zum bösen Spiel. Zumindest vor den Wahlen.

 

Im Gegensatz zum AKW-Ausstieg haben wir für einmal vieles richtig gemacht. Allem voran, dass der Ausstieg ein Datum hat. Und damit ein Ziel. Und damit eine Wegmarke, die einklagbar und überprüfbar ist, für alle gilt und allen klar ist. Keine faulen Ausreden wie bei den AKW, die so lange laufen dürfen, wie sie «sicher» seien. Wobei dann nicht so ganz nachvollziehbar ist, warum denn niemand der Stadt Zürich ihre AKW-Aktien abkaufen will, wo das doch soo ein sicheres Geschäft ist. Nein, bei den fossilen Energien ist am 31.12.2039 Schluss. Und weil ein solcher Schluss eine Vorwirkung hat, auf Investitionen, auf System- und Geräteentscheide, auf langfristige Verträge und so weiter, deswegen darf man guter Hoffnung sein, dass sogar einige Jahre früher Schluss ist. Natürlich, es ist nur die Stadt Zürich (und einige andere dazu, das sei nicht vergessen), aber der Trend ist gesetzt, das Signal ist da.

 

Und warum ist das so schlimm, wenn diese Revolution verpennt wird? Zum Beispiel, weil man nicht erkennen und einschätzen kann, was dann im Nachgang so alles abgeht. Beziehungsweise weil man die Relevanz davon nicht versteht. Etwa, dass Gaskraftwerke als Stromlückenersatz propagiert werden, eine Idee, die derart harmlos daherkommt, dass sie sogar von einer SP-Bundesrätin unterstützt wird. Das verträgt sich natürlich nicht mit dem Gasausstieg, wird aber sofort plausibel, wenn man hier ein Rückzugsgefecht der Gasindustrie sieht, die solchermassen noch ein klein wenig ihr Geschäftsmodell retten könnte. Dasselbe bei den Atomkraftwerken, wo man neuerdings wieder über «saubere» Meiler nachdenken will, sogar als Beitrag gegen den Klimawandel. Die FDP hat sich bereits dazu bekannt, was auch deren Ortspartei in Zürich als verlogen dastehen lässt, und das, aua, vor den Kommunalwahlen. Solche Scheindebatten sind Ablenkmanöver, nur damit man nicht vom Energiesparen reden muss, damit man die neuen erneuerbaren Energien immer noch behindern kann und – so viel Küchenpsychologie darf sein – damit man nicht zugeben muss, dass eine grüne Wirtschaft möglich ist.

 

Denn das wäre die zweite Revolution in Folge, die allerdings vermutlich etwas länger braucht. Weil wir für eine grüne Wirtschaft nicht nur erneuerbare Energien, sondern auch einen komplett anderen Umgang mit Materialien einführen müssen. Weil wir uns keine Rollbacks in fossile Zeiten leisten dürfen. Weil wir dafür unser Konsumverhalten ändern müssen. Und ja, auch weil wir teilen müssten mit dem Rest der Welt. – Nun ja, niemand hat behauptet, Revolutionen seien bequem. Nicht mal die, die niemand bemerkt.

 

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