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Autobahnen … echt jetzt?

Der erste grosse politische Kampf, an dem ich Anfang der 1990er-Jahre teilnahm und den wir krachend verloren haben, war der Widerstand gegen den Uetlibergtunnel. Eine Gruppe von Leuten verschiedener linker Parteien, dies- und jenseits des Uetlibergs, engagierte sich jahrelang politisch, aktivistisch und juristisch gegen dieses Unding, zuerst fundamental dagegen, später im Sinne einer Rückfallposition für eine Tunnelführung ohne Anschluss an die Stadt in der Brunau. 

Aber den Autofanatikern ging es schon damals nicht um rationale Logik: Sie verkauften den Tunnel als «Umfahrung», (was auch ein sogenannt gestreckter Tunnel gewesen wäre), was aber mit einem Südanschluss an die Stadt ganz offensichtlich zur «maximalen Unwahrheit» (wie das Lisa Mazzone heute formulieren würde) mutierte, denn so wurde die Umfahrung zu einem Zubringer. Und so war es und ist es heute noch.

Mich ödet die Vorlage, über die wir im November abstimmen, dermassen an. Nicht schon wieder! Seit Jahrzehnten ist allen klar, dass mehr Strassen nicht weniger Verkehr und langfristig auch keine Entlastung bringen (können), aber den Autofanatikern ist das seit Jahrzehnten wurst. Man darf sich ruhig fragen, was ein weiterer Autobahnausbau eigentlich soll. Für mich ist es eine reine (und sehr kindische) Machtdemonstration. Derart kontraintuitiv ist die Sache, gegenläufig zum Pariser Klimaabkommen, gegenläufig zum Artenschutz, gegenläufig zur Finanzlage (die ja, gemäss den Bürgerlichen, katastrophal sein soll), gegenläufig zu einer rationalen Infrastrukturpolitik, die da sagt: Wir können uns nicht drei ausgebaute Systeme leisten, die Strasse, die Luft und die Schiene. («Folgerichtig» spart man an den Nachtzügen, haha.) Und das angestrebte, bzw. behauptete Ziel, die Entlastung, wurde, wie gesagt, wissenschaftlich wie empirisch schon lange widerlegt. Was bleibt also, ausser automobilem Getrötzel?

Vorab in der Klimadebatte ist oft zu hören, es sei falsch, mit dystopischen (also in Bezug auf das Klima: realistischen), Visionen zu agieren, wir bräuchten optimistische, utopische Narrative vom «guten Leben», von einem gelingenden Leben jenseits der Verschwendung, des Überkonsums und der Umweltzerstörung. Das ist schon recht, aber mir ist das definitiv zu naiv. Mir reicht als Utopie, dass wir überhaupt überleben können, dass wir das langfristig tun können, und, dass das vor allem alle tun können und nicht nur die Menschen des globalen Nordens, die das Geld dazu haben. 

Aber das reicht offensichtlich nicht aus. Meines Erachtens allerdings nicht, weil sich die Menschen ein solches Leben mangels «positiven» Narrativen nicht vorstellen können. Es wird ja auf allen Kanälen bis zum Abwinken verbreitet, etwa mit der Zelebrierung intakter Natur in der Tourismuswerbung, mit der Empfehlung für «gesunde» Nahrungsmittel in allen Medien oder mit glühenden Appellen zur Achtsamkeit in der Ratgeberliteratur: Das pure grüne Paradies!

Der Kontrast zur Realpolitik, die man klimatechnisch als reaktionär bezeichnen muss, ist grotesk. Eine aktuelle Erklärung dazu von der Philosophin Carolin Emcke: «Es gibt im politisch-medialen Feld eine riesige Verdrängungs-Verrätselungs-Operation, die uns Bürger:innen immunisieren will gegen den Schmerz der Erkenntnis, den wir empfinden müssten, wenn wir uns einliessen auf die permanenten Disruptionen, Störungen und Zerstörungen, die unsere fossile Lebensweise verursacht hat.» Verdrängen. Verrätseln. Autobahnen bauen. Und alles wird gut.

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Fluch der Ungleichheit

2013 wurde in Zürich ein Verein namens «Swiss Equality Group» gegründet, der die negativen Folgen von Ungleichheit und die positiven Auswirkungen von Gleichheit in der Gesellschaft thematisieren wollte. Die Gründungsmitglieder stammten aus dem linken Spektrum und waren alle politisch engagiert. Ungleichheit ist eine wissenschaftlich sehr gut untersuchte Sache – und sie ist verheerend. Es ist erstaunlich, wie unbekannt ihre zahllosen Auswirkungen in einer Gesellschaft sind – eben deshalb die Vereinsgründung –, und wie wenig dagegen unternommen wird. Egal, wie reich ein Land ist – je ausgeprägter die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft ist, desto grösser sind seine Probleme im Gesundheits-, Sicherheits- und Sozialbereich.

Wie man materielle Ungleichheit misst, ist bekannt. Verbreitet ist der Gini-Index, ein statistisches Mass für die Ungleichheit der Einkommen; beim Vermögen kann man ebenfalls Steuerdaten auswerten, was in der Schweiz katastrophale Werte ergibt:  So etwa verfügen 1 Prozent der reichsten Menschen über 45 Prozent der Vermögenswerte. Es geht aber, oft als Folge der materiellen Ungleichheit, auch um ungleich verteiltes Sozial- und Humankapital, wie wir unlängst wieder einmal bezüglich Bildungsgerechtigkeit in der Schweiz erfahren haben. Zentral und brisant ist nun aber die Frage, wie sich das auswirkt. Die (unvollständige) Liste liest sich wie eine Aufzählung von allem, was gesellschaftlich schiefgehen kann: Je ungleicher ein Land, desto tiefer die Lebenserwartung seiner Bewohner:innen, desto schlechter ihr Gesundheitszustand, (auch der psychische), desto höher Kindersterblichkeit, Selbstmordrate, Gefängnisbelegung, Drogenkonsum oder sogar Adipositas, aber es leiden auch die soziale Mobilität und die Bildung, was wiederum die Zementierung der Ungleichheit fördert, oder auch ‹weiche› Faktoren, wie das Vertrauen der Menschen ineinander. 

Warum wird dennoch wenig gemacht dagegen? Einerseits hat das etwas damit zu tun, dass Ungleichheit alleine nicht zwingend negativ sein muss. Wo Menschen leben, gibt es Ungleichheit, die Dosis macht auch hier das Gift, und die Dosis ist eine Frage der sozialen Wertung und des Aushandelns. Und zweitens ist Ungleichheit ein inhärentes Element kapitalistischer Systeme. Wettbewerb entsteht nicht (oder kaum) unter Gleichen, und die Idee eines übergeordneten Ausgleichs ist zwar in der Schweiz ebenfalls bekannt, (man nennt es «Umverteilung» und die ist zum Beispiel Grundlage jeder Versicherung), aber auch sehr beschränkt; es ist eine politische Frage, wo sie zum Zug kommt und wo eben nicht. Ich erinnere gerne an die 1:12-Initiative der Juso, die eine moderate Umverteilung zur Folge gehabt hätte, denn in den meisten Firmen und in der Verwaltung ist die Lohnungleichheit viel tiefer, in der Stadt Zürich zum Beispiel unter 1:5, die aber trotzdem keine Chance hatte. Es bleibt wohl eines der grossen Rätsel, warum zwar die überwiegende Mehrheit der Schweizer:innen von mehr Gleichheit profitieren würde, aber dennoch dagegen ist. Der Trend geht im Moment sogar eher in die Gegenrichtung – nicht zuletzt eine Folge ungebremster bürgerlicher Hegemonie in Parlament und Regierung.

Und die SEG? Nun ja, wie erwähnt: Die verantwortlichen Mitglieder waren allesamt feste engagiert in ihren Parteien, Organisationen und Parlamenten. Kein Wunder, hatten wir zu wenig Zeit für die Swiss Equality Group, und daher lösten wir den Verein wieder auf. Im Rückblick muss man sagen: eindeutig viel zu früh.

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Sommer, Krishna, Swifties

Neue Bauernregel: «Chanten die Krishnas im Garten, sind Unwetter nicht zu erwarten.» Wir leben nun mal in Hörweite des Krishnatempels, der auf der anderen Seite der Strasse liegt, die neuerdings Rad-WM-technisch «City-Circuit» heisst. Aber nicht, dass Sie jetzt denken, ich hätte was gegen die Krishnas! Die halten sich, im Gegensatz zum blöden Nachbarshund, immer an die Polizeiverordnung, und ihre Gesänge sind ja quasi Noten gewordene Haschischpfeifen, also stressmindernd, aber auch sagen wir mal, nicht so originell, was im Effekt ein bisschen an Taylor Swifts Songs erinnert. Ich hab auch nichts gegen Swifties, auch nicht gegen die gefühlten dreitausend Exemplare damals nach dem Konzert im 33er. Die waren immerhin wesentlich chilliger als gefühlte drei Exemplare von FCZ-Fans. Und sahen besser aus. Was ich mich einfach frage: Kann mir eigentlich irgendjemand sagen, was ein Taylor-Swift-Konzert strukturell von einer Critical Mass unterscheidet? An beiden Events strömen spontan Massen von Menschen ohne Bewilligung auf den öffentlichen Grund, verstopfen die Quartiere und legen den Verkehr lahm. Der einzige Unterschied ist, dass die FDP bei der CM zuverlässig ein Schäumchen vor dem Mund bekommt, aber das ist kein struktureller Unterschied, sondern ein pathologischer. Ich verstehs nicht. Was dulden wir, was nicht? Ich muss dazu schnell ausholen:

Der Sommer, oh Herr, war nämlich nicht nur sehr gross, sondern auch durchaus bemerkenswert. Kaum hatte er begonnen, klebten sich auch schon die ersten Klimaaktivist:innen an die Rollbahnen – und verlangten nun wirklich Unmögliches: Saubere Seine bis zum Juli! Absurd! Und der Herr sah, dass er hier mit stärkerem Geschütz auffahren muss und beschenkte Paris mit einer Olympiade. Und siehe: Die Behörden nahmen den Finger heraus und anderthalb Milliarden in die Hand und putzten den Fluss, bis er wieder beschwimmbar war… (na ja, immerhin nah dran). – It’s sports, stupid! scheint der Slogan der Stunde zu sein, und da will natürlich auch die Stadt Zürich nicht nachstehen. Obschon es eine Beinahe-Unmöglichkeit zu sein scheint, mit baulichen Massnahmen auf unseren Strassen dem Fuss- und Veloverkehr zu mehr Platz zu verhelfen, was mehrere Gesetze der Stadt eigentlich vorschreiben, liefert die anstehende Rad-WM den nötigen Boost für Erstaunliches: Der City-Circuit vor meiner Haustür wurde schon Monate (!) vor dem Start des ersten Rennens gesäubert, bzw. von allen Inseli, Parkplätzen, Pfosten und weiteren Störfaktoren befreit. Erstaunlich, was geht.

Sport und Kultur. Sie allein können, was alle Demos, Klebe- und Protestaktionen nicht können. Sie allein bringen den Notstand, den die Klimaaktivist:innen seit Jahren vergeblich einfordern. Sie überschreiten nicht nur Grenzen, sondern auch Gesetze. Sie übersteuern sogar das Gewerbe, obschon es, für einisch mit voller Berechtigung, über Ertragsausfälle, Blockaden und andere Plagen klönt. Sie schneiden Lebensräume entzwei, isolieren alte Menschen und Mobilitätsbeeinträchtigte in ihren Wohnungen und legen das Leben (und bei uns sogar die Müllabfuhr) lahm, wenn auch nur für ein paar Tage. Wir lernen und staunen. – Herr, der Sommer war bemerkenswert. Und normal. In Griechenland brannten die Wälder, in den Alpen wurde das Wasser knapp (zu viele Kühe auf den Alpweiden), Elon Musk outete sich als Klimaleugner und Brienz ist im Schlamm ersoffen. Herr, es gibt viel zu tun. Und verschone uns vor Unwettern. Hare Krishna!

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Den Wolf im Griff

Vorab: Grüne Kolumnisten an sich haben keine Ahnung, weder von Wölfen noch von der Natur. Sie sind meist städtische, also realitätsfremde, sesselfurzende Schreibtischtäter und sollten daher die Wolfsdebatte den Expert:innen in den alpinen Kantonen und dem Bundesamt für Umwelt (Bafu) sowie Albert «Wolfi» Rösti überlassen. Seien Sie also gewarnt.

Der Wolf an sich weiss nicht, was eine Landesgrenze ist, und wenn er es weiss, dann ist es ihm schnuppe. Er überschreitet sie unwissentlich, aber nach gewissen Naturgesetzen, so wie die Regenwolken das tun, weil sie von Hochs und Tiefs, also Physik, ins Wallis oder ins Maggiatal getrieben werden. In fast allen unseren Nachbarländern leben ein Siech voll Wolfsrudel, (ausser komischerweise in Österreich). In Italien sind es etwa 150, in Deutschland 130 und in Frankreich um die 80. In der Schweiz sind es nur 32. Davon hat Albert Rösti… ähm, also nicht er direkt, aber seine Jäger:innen, soeben mal 12 abgeknallt.
Wo keine Wölfe mehr leben, werden Wolfsreviere frei. Diese erstrecken sich, und jetzt müssen Sie sehr tapfer sein beim Weiterlesen, auch über Landesgrenzen hinweg. Wenn wir also in der Schweiz Wölfe abknallen, kann es sein, dass sofort der erste Absatz in Kraft tritt und Wolfsrudel aller Länder im Dichtestress sich in Bewegung setzen. Quasi Wolfsphysik. Oder Masseneinwanderung, wie Sie wollen.

Wölfe ernähren sich zu 98 Prozent von Wildtieren, Bündner Jäger:innen allerhöchstens zu 2 Prozent. Trotzdem, und obschon genau genommen also keine einzige Bündner Jägerin (Walliser, Urner, Berner etc. immer mitgemeint) existenziell vom Wild abhängig ist, jagen sie solches und nehmen damit dem Wolf und der Wölfin und den Wölfchen ihre Nahrung weg. Die nehmen dafür hin und wieder 1 Schaf als Ersatz. In Uri gerne auch 7 Geisslein. Erst kommt das Fressen und dann die Moral. Denn der Wolf an sich weiss nicht, dass Schafe keine Wildtiere sind und einem Menschen gehören, der dann stinksauer ist, wenn sich der Wolf, weil er Hunger hat und kein Gämschi findet, sein Schaf gekrallt hat. Ja, der Wolf in seiner unendlichen Unwissenheit weiss nicht einmal, dass dem Bauern jedes gekrallte Schaf entschädigt wird, so dass ausser Unannehmlichkeiten kein Schaden entstanden ist. Aber natürlich ist der Wolf damit ein Kostenfaktor, und zwar in Summa ungefähr in der Grössenordnung eines halben Jahresgehaltes von Albert Rösti. Der Wolf an sich betrachtet sich übrigens selber nicht als Schaden. Das tut die Natur nie. Das tun nur das Bafu oder der Mensch.

Das Schaf an sich kommt auf den Alpweiden gar nicht zu Tode, aber wenn doch, dann durch Krankheit oder Unfall. Nur in ganz wenigen Fällen durch den Wolf. Aber das hat jetzt eigentlich weniger mit dem Wolf zu tun, sondern eher mit dem Schafhalter. Immer wieder kommt es dagegen vor, dass ein Zug oder ein Mercedes in eine Schafherde rasen und ein Massaker anrichten (Roadkill). Das hat dann keine Konsequenzen für den Wolf, und ich wüsste auch nichts von einer bundesrätlichen Abschussgenehmigung für Mercedesfahrende.

Gemäss der Berner Konvention, Anhang II, sind der Wolf, die Wölfin und die Wölfchen übrigens eine «streng geschützte» Art. Was man von Schafen nicht sagen kann. Und: Der Natur, ganz egal, wie sie daherkommt, ob als Wolf oder als autobahnwegspülender Regenfall, ist der Mensch egal. Zum Glück haben wir sie aber im Griff! Den Wolf und die Flüsse oder wie dieses Naturzeugs alles heisst, keine Ahnung.

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Wissen sie, was sie tun?

Die Haltung der Parlamentsmehrheit in Bern zum Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) ist ein politischer Skandal, trotz aller Versuche, mittels haarsträubender Argumentationen und juristischer Spitzfindigkeiten das Geschwätz von «fremden Richtern» bestätigen zu wollen. Das kann nicht kaschieren, dass das Parlament dem Ansehen der Schweiz einen schweren Schaden zufügt. Aber damit nicht genug. Verstärkt wird das durch ein weitgehend unkommentiertes Statement des Politologieprofessors Vatter und seiner Mitarbeiterin Freiburghaus von der Uni Bern. Die beiden reden eine undemokratische Einmischung der Justiz herbei und vermischen dabei Politik und Recht, ganz nach dem Motto: Wenn ein SVP-Mitglied dafür verurteilt wird, weil es einem SP-Mitglied eine Ohrfeige gegeben hat, dann ist das ein politisches Urteil.

Vatters These, dass «Schweizer Gerichte wichtige politische Entscheidungen treffen», ist allerdings ein GAU mit Ansage. Es geht im Grunde um eine zunehmende (gewollte?) Ignoranz der schweizerischen Praxis gegenüber, auch Gerichte und andere juristische Gremien nach politischen Kriterien, etwa nach dem Proporzsystem, bzw. via politische Prozesse zusammenzusetzen, also beispielsweise, indem Parteien die Kandidat:innen portieren. In meiner Wahrnehmung beruht diese Praxis auf einem pragmatischen Ansatz, nämlich dass dieser Prozess meinetwegen der schlechteste von allen ist, nur dass niemand einen besseren, ausgewogeneren, transparenteren und adäquateren Weg kennt.

Denn es ist eine Binsenwahrheit, dass Politik und Justiz Zwillinge sind – zwei eigenständige Wesen, aber eng verwandt. Erstens kann sich die Justiz den gesellschaftlichen Haltungen nie gänzlich entziehen, und umgekehrt ist der Gesetzgeber eine politische Staatsgewalt. Anzunehmen, Politik und Justiz seien komplett unabhängige Systeme, wäre also mehr als nur naiv. Der Vorwurf, dass das Urteil des EGMR ein politisches sei, grenzt an Infamie. Gerade in der Schweiz, die ja keine Verfassungsgerichtsbarkeit will, ist das Wesen der demokratischen Hegemonie über die Gesetze überaus heikel. Klar, der Souverän hat das Recht, das Grundgesetz zu verändern und damit also die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu gestalten. Das Volk hat das letzte Wort, und zwar mit einfacher Mehrheit. Das heisst aber im Umkehrschluss eben genau nicht, dass das Volk alles darf. Dem EGMR, der im Fall der Klimaseniorinnen als Korrektiv waltete, daher vorzuwerfen, er würde «politische Entscheide» fällen, ist eine Nebelpetarde.

Dass das Bundesgericht zum Beispiel in Appenzell Innerrhoden das Frauenstimmrecht durchsetzte, war nicht ein politisches Urteil, sondern die Mahnung, eine einmal unterzeichnete Abmachung auch einzuhalten. Vatters Vorwurf, dass sich das Bundesgericht in solchen Fällen «gleich selbst zum Gesetzgeber» mache, ist sachlich haltlos und politologisch falsch. Natürlich kann man es so drehen, wenn man denn will. Aber dann man muss sich die Frage gefallen lassen, in welche Taktik man sich da einklinkt. Letztlich geht es nämlich um die Gewaltenteilung, eine unabdingbare Grundlage im Rechtsstaat. Ich schliesse mich Daniel Binswangers Aussage in der ‹Republik› an: «Wer nicht will, dass Gerichte demokratische Volksentscheide einschränken, revidieren oder zurückweisen können, der muss schlicht die Gewaltenteilung aufgeben.» Dass ausgerechnet ein Politologieprofessor einer Schweizer Uni das will, entsetzt mich als Wissenschaftler und als Politiker.

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Kommentarspalten

Natürlich kann man argumentieren, es sei generell verschwendete Zeit, Kommentarspalten zu lesen. Aber nachdem zum Gaza-Krieg vermutlich alles schon geschrieben und gesagt wurde, was sich von der heilen Schweiz aus überhaupt schreiben und sagen lässt, mach ich das halt manchmal dennoch. Und wundere mich. Zunächst einmal über die Emotionalität der Debatten. Man könnte meinen, alle seien direktbetroffen. Was die einen auch sind, aber gewiss nicht alle. Dennoch wird verbittert ausgeteilt und belehrt. Wird etwa ins Feld geführt, der Staat Israel verletzte Völkerrecht oder UNO-Konventionen, wird subito eingewendet, das sei nicht nur einseitig, sondern auch eine grobe Verallgemeinerung und damit falsch und damit auch noch antisemitisch. Und das stimmt vielleicht sogar – aber es entkräftet den Vorwurf selber nicht. Dieses Grundmuster zieht sich durch. In den Kommentarspalten spricht man nicht miteinander, man argumentiert nicht einmal, sondern man tauscht Adressen aus. Wozu eigentlich?

Ich glaube auch, dass zum Beispiel Antisemitismus in unserer Kultur nicht nur eine lange Tradition, sondern eine geradezu konstitutive Komponente hat. Ein Blick auf die Geschichte aus der Sicht des Papsttums – wobei die Reformation damit nicht aus dem Schneider ist, im Gegenteil, wenn wir nur schon an Luther denken! – oder ein bisschen Lektüre des Kirchenkritikers Karlheinz Deschner sprechen da Bände. Die christliche Kultur, die sich auf einen als Erwachsenen getauften Juden beruft, scheint da, wenn ich das mal sehr salopp küchenpsychologisch formulieren darf, ein paar Abgrenzungsprobleme zu haben. Aber das nützt mir nun auch nichts, wenn Antisemitismus als Vorwurf aus den Kommentarspalten dröhnt, wie zum Beweis dafür, dass alle Angehörigen der hiesigen Kultur ohnehin falsch an den Gazakonflikt herangehen. Wahr oder Falsch sind nicht immer Kategorien, die weiterhelfen, und hier genügen sie auch nicht als Handlungsanweisung. Ein Rezept gegen unseren realen wie den unterstellten Antisemitismus habe ich in all den Monaten nirgends gelesen.

«Richtig» benehmen kann man sich in Kommentarspalten im Moment ohnehin nicht. Man kann «ausgewogen» sein – und setzt sich damit sofort dem Vorwurf des Bothsideism aus (doch, das gibt’s, und wie!, aber eher bei anderen Themen). Man kann empathisch sein oder historisch fundiert, aber auch das nützt nichts. Man kann für eine Ein- oder eine Zweistaatenlösung plädieren (und alle wissen, dass es die eine oder die andere sein muss), aber auch das wird als falsch gebrandmarkt, weil beide Lösungen Lichtjahre von der Realität entfernt sind. Jede Haltung scheitert an der Realität in Gaza. Dieser Konflikt, der sich in einer unendlichen Abfolge von Ursachen und Wirkungen schon so lange hinzieht, dass jegliche Debatte darüber hilflos und manchmal auch sinnlos erscheint, ist einzigartig. Und Versuche, die Kette zu durchbrechen, wie das etwa Jitzchak Rabin 1995 wollte, wurden in der Logik des Krieges, hier durch ein tödliches Attentat eines rechtsextremen Studenten, abgewürgt. Die Unmöglichkeit eines rationalen Diskurses ist das Schlimmste an der Entwicklung. Man sieht sie den Kommentarspalten an.

Aber vermutlich geht es in Kommentaren auch nicht darum, sondern um die Möglichkeit, sich überhaupt öffentlich äussern zu können. Und so ganz falsch ist das ja auch nicht, wenn wir an die nicht aufgearbeitete Geschichte mit der Pandemie denken, deren Spätfolgen uns heute noch in einer ausgewachsenen Volksabstimmung heimsuchen.

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Haupt- statt Nebensatz

Der ebenso listige wie geniale Dichter Thomas Gsell brachte es letzthin wieder einmal auf den Punkt in seinem Gedicht «Mir zum Sechsundsechzigsten»: «…Nun bin ich Haupt- statt Nebensatz / Nun bin ich Wein statt Krug. / Sternhell strahlt mein Erfahrungsschatz, / und Jugend schenkt mir ihren Platz / in Bus und Bahn und Zug». Genau! So isses und nicht anders! Ein Traum! Mir geht’s zwar nicht ganz genau so, weil ich in Bus und Bahn mit meinem faltenfreien Gesicht – nun ja, ausser natürlich der dezenten Wutbürger-Zornesfalte, aber das ist nicht das Alter, das sind die Tubel in Bern oben – immer noch als Jugend durchgehe, der natürlich kein Sitz angeboten wird, aber henu, das kommt schon noch.

Ironie dem Pensioniert-, also Altsein gegenüber ist durchaus nötig. Schon Hollywoodlegende Mae West bemerkte, dass das Alt werden nichts für Feiglinge ist. Einerseits ist das wirklich ein magischer Lebensabschnitt, denn zum ersten Mal in meinem ganzen Leben kann ich machen, was ich will. Wahnsinn. Andererseits kann das nur von sich sagen, wer es sich auch leisten kann. Heller Wahnsinn. Ein gutes Leben im Alter, was immer auch eine finanzielle Komponente hat, war zwar von unseren Vorfahren verfassungsmässig vorgesehen, aber wir alle wissen, wie die Realität heute aussieht. Die 13. AHV-Rente, die Wintermantelzulage oder die Ergänzungsleistung sind da zwar kleine Pflästerli, aber nur schon die Tatsache, dass sie überhaupt nötig sind, bekleckert unseren Umgang mit älteren Menschen nicht grad mit Ruhm.

Es mehren sich die Anzeichen, dass sich unsere Gesellschaft tatsächlich auf einen Gedankenprozess einlassen will, an dessen Ende der Vertrag, dass die Jüngeren und Leistungsfähigen für die Älteren materiell sorgen sollen, nicht mehr gültig ist. Das wäre zwar eine Bankrotterklärung des Sozialstaats, aber man kann das ja meinetwegen diskutieren. Nur, wenn schon, dann muss eine solche Debatte bitteschön weitaus offener und ehrlicher geführt werden als heute. Wer die Alten hängen lassen will, soll das laut und deutlich sagen. Und vor allem zu den Alternativen stehen (und überhaupt eine haben).

Die Anzeichen mehren sich auch, dass wir Systeme unterhalten, die wir uns längerfristig unter Umständen – Sie sehen, ich formuliere verflucht vorsichtig – gar nicht leisten können. Das sind nicht nur soziale Systeme, wie unser Gesundheitssystem oder eben die Altersvorsorge, sondern auch Infrastrukturen (was aktuell besonders deutlich in Deutschland oder den USA sichtbar wird, wo Brücken und Strassen brösmeln) oder unsere Armee, die schon immer ein Fass ohne Boden war, oder auch unsere Landwirtschaft. Es fragt sich aber, ob wir uns das alles wirklich nicht leisten können, oder ob das taktische Positionsbezüge sind, wie dazumal das Geschrei um die 13. Rente, welche die Bürgerlichen ja bereits sabotieren wollen.

Und es fragt sich zweitens, was das genau bedeutet, wenn wir am Ende einer gesellschaftlichen Debatte zum Schluss kämen, dass etwas gar nicht finanzierbar ist. Und ob wir so eine Einsicht überhaupt zulassen würden. Vorher noch werden wir versuchen, an den Systemen herumzusparen, sie zu redimensionieren, was aber nicht überall machbar ist, weil sonst der Systemzweck gar nicht mehr erreicht werden kann. Was nicht nur für die Altersvorsorge, sondern zugegebenermassen auch für die Armee gilt. Für mich ist daher schon lange klar: Wir müssen mehr Einnahmen haben, und dazu sollten wir uns Robin Hood wieder mehr zum Vorbild nehmen. Reichtum gibts genug bei uns.

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Kranke Häuser

Sorry, wenn ich nochmals damit anfange, aber nachdem es nun sogar Mitte-Präsident Pfister öffentlich und laut gesagt hat, wollen wir es gerne glauben: Das Gesundheitswesen ist kein Markt, und damit hat auch der Wettbewerb – man kann auch Wettrüsten sagen – dort nichts zu suchen. Muss man jetzt nur noch der Zürcher Gesundheitsdirektion beibringen. Die zweite Erkenntnis, die sich durchsetzt: Spitäler rentieren nicht, wenn man richtig rechnet. Nie. Auch die privaten nicht. Der Fall Hirslanden ist dabei besonders lustig: Jahrelang hat man uns unter die Nasen gerieben, dass gerade diese Spitalgruppe besonders gut wirtschafte. Die NZZ schrieb 2017 noch triumphierend: «Die Klinik Hirslanden fährt denn auch die höchsten Gewinne der Zürcher Listenspitäler ein.» Das lag allerdings nur am extrem hohen Anteil Privatpatient:innen, was der Kantonsrat dann korrigieren musste. Und was passiert? Die Hirslandengruppe gab Anfang März die mögliche Entlassung von über hundert Mitarbeiter:innen bekannt. 

Begründet wird das treudoof damit, dass die «nicht kostendeckenden Tarife der Grundversicherung und im ambulanten Bereich, der Druck auf die VVG-Tarife sowie die voranschreitende Ambulantisierung ohne kostendeckende Tarife den Spitälern stark zu schaffen machen.» Wie wenn das nicht allen gleich ginge.

Auch der dritte Schwindel ist aufgeflogen: Alle Spitäler müssen periodisch in ihre Infrastruktur investieren. Und sie können das nicht mit dem normalen Geschäftsbetrieb finanzieren, natürlich nicht, die dazu notwendige Marge ist obszön hoch. Also muss der Staat einspringen, und er macht das auch überall (zum Beispiel in St. Gallen, Bern, Aargau, Uster, …), bürgerliche Ideologie hin oder her. Dass dabei Fälle wie das Kispi in Zürich ganz besonders übel daherkommen, hat allerdings eher mit der FDP zu tun, die dort bekanntlich den Stiftungsratspräsidenten und den Vize stellt. Das Maulheldentum dieser Partei bezüglich Unternehmertum und Wirtschaften spottet jeder Beschreibung. 

Man kann etwas salopp zusammenfassen: Gib den Exponent:innen dieser Partei ein x-beliebiges Unternehmen in die Finger, egal, ob es Swissair, CS oder Spital Wetzikon heisst, und sie fahren es zuverlässig an die Wand. Worauf dann wieder der Staat einspringt. Was mit Systemrelevanz zu tun hat. Ich erinnere mich allerdings noch gut: Als die Stadt Zürich wie das Häschen vor der Schlange namens «kantonale Gesundheitsdirektion» sass, weil man um den Verbleib der Zürcher Stadtspitäler (STZ) auf der Spitalliste fürchtete, was ein grandioser Witz war, denn wenn je zwei Spitäler systemrelevant waren und sind, dann die Waid und das Triemli, da wurde von den Bürgerlichen andauernd betont, man müsse eben die Finanzen im Griff haben. Was bei den geltenden Finanzierungsbedingungen gar nicht möglich war, wie nun sogar die Hirslandengruppe merkt. Und obwohl alle umliegenden Spitäler offen und üppig von den Standortgemeinden und -kantonen unterstützt wurden, meinte die Stadt Zürich, sie müsse päpstlicher als der Papst sein und sich zurückhalten. Es kam dann, wie es kommen musste: Die GUD traute sich selbstverständlich nicht, das STZ von der Spitalliste zu streichen, die Belegschaft durfte aber unter der ständigen Drohung leiden.

Fazit: Das Geschäftsmodell Spital funktioniert nicht ohne die öffentliche Hand. Ein Spital ist ein Teil des Service public und kein Unternehmen. Nicht nur deshalb war der Entscheid des Zürcher Gemeinderates, das STZ nicht auszugliedern, durchaus richtig.

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Return on Investment

Viel Aufregung vor und während der Abstimmung über den 13., und immer noch viel nachher. Die Verlierer:innen üben sich mit Fleiss darin, Steine in den Weg der finanziellen Umsetzung zu legen. Fragt sich, woher die Trotzhaltung kommt. Falls es stimmt, wie der ‹K-Tipp› schrieb, dass die Reserven der Unfallversicherungen 72,5 Milliarden Franken betragen und dass auch die Arbeitslosenversicherung Überschüsse erzielt, dann können diese Lohnprozente gesenkt und im Gegenzug jene für die AHV-Rente erhöht werden: Nullsummenspiel. 

Noch nicht einmal die viel zitierte Jugend, die uns Alten nun den Altersreichtum finanzieren müsse, wird also wirklich geschädigt. Unter dem Strich, falls der Bundesrat seinen Job richtig macht, steigen die Lohnprozente für Sozialabgaben auch ab 2026 kaum an. Zudem: Die Rentenerhöhung ist ein Einkommen, das muss versteuert werden, und das spült dem Staat einen Teil seiner Mehrkosten wieder zurück. Und, ganz wichtig: Die 13. Rente wird, ausser natürlich bei Herrn Blocher, kaum im Sparstrumpf landen. Gerade die Menschen, die sie bitter nötig haben, also vorab die fast 30 Prozent aller Rentner:innen, die nie und nimmer von zwölf Renten leben können, werden sie schlicht: ausgeben. Das nützt der Wirtschaft. Man nennt das Kaufkraft oder so.

Was mich aber immer noch umtreibt: Das mit dem Generationenvertrag. Ich finde, das ist ein heikles Pflänzchen. Viel zu zart, als dass man mit ständiger Miesmacherei daran herumzupfen darf. Die Generationenbuchhaltung bringt es ja deutlich und keineswegs überraschend an den Tag: Junge (bis ca. 25) und Alte (ab 65) «kosten». Die Arbeitstätigen dazwischen «leisten». Der Unterschied bei denen, die «kosten»: In Junge investieren wir, weil wir von ihnen einen Return on Investment erwarten. (Ja, ich mach das extra, diesen Ökonomie-Slang. So spricht man über Menschen, gewöhnen Sie sich dran.) Die Alten dagegen: Schwarze Löcher! – Warum das nun aber die Schuld der Rentner:innen sein soll, ist mir schleierhaft. 

Warum holen wir uns nicht auch von ihnen einen Return? Zum Beispiel in Form von Erfahrung, die quasi als Humankapital in den Jahrzehnten vor der Verrentung angehäuft wurde und nach der Pensionierung – zack! – auf null abgeschrieben wird. Heisst: Diese Investition wird schlicht vernichtet. Muss man sich ja erst mal leisten können. Bis auf ein paar Business-Angels, ein paar Klassenassistenzen und jede Menge Freiwilligenarbeit gibt es keine Ideen, wie wir von der älteren Generation profitieren könnten, (ausser natürlich einem höheren Rentenalter, haha).

Aber Moment! Stimmt das überhaupt, dass die Alten nichts zurückzahlen? Wie ist das mit den Dutzenden Milliarden Franken, die sie an unbezahlter Arbeit verrichten: Pflege, Enkelbetreuung, Übernahme der Elternfunktion, Nachbarschaftshilfe, usw.? Während der Pandemie wurde dieser Einsatz als systemrelevant bezeichnet, heute ist er wieder «normal», also nichts wert. 

Dafür darf man dann ungestraft behaupten, eine 13. Rente sei Luxus. – Ich denke, der Generationenvertrag wird durch einen Renten-Teuerungsausgleich allein nicht auf die Probe gestellt. Ökonomisches Denken ist dabei ohnehin fehl am Platz. Respekt, Solidarität und Zusammenhalt (Sozialkapital!) sind wichtiger, denn das sind keine Einbahnstrassen, davon profitieren alle. Und wenn sich jemand tatsächlich, und nicht nur vorgeschoben, Sorgen um die Altersvorsorge machen sollte: Bitteschön, die Abstimmung über die 2. Säule kommt demnächst. Mal sehen, wer dann wie argumentiert.

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Über Befindlichkeiten

Menschen werden bei ihren Entscheidungen eher von ihrer Befindlichkeit und von Emotionen geprägt als vom Verstand. Gekauft. Wissen wir längst. Aber im Moment übertreibt man es ein bisschen damit. Auch Menschen, die eigentlich wissen, wie unsere drei Säulen der Altersvorsorge funktionieren, oder was ein Umlage-, sprich Solidarsystem ist, kolportieren Unsinn, wie etwa den von der «Giesskanne». Das ist gefühlt richtig, aber rational falsch. Neun von zehn Menschen erhalten mehr AHV-Rente, als sie einbezahlt haben. Die Differenz bezahlte ihnen Christoph Blocher. Das ist ein effektiver und erwünschter sozialer Ausgleich. Wer sich darüber aufregt, dass auch Blocher einen 13. bekommen soll, kann sich genauso gut darüber empören, dass auch Blocher im Herrliberger Grossverteiler vom Aktions-Rindsfilet profitiert. Giesskanne überall, nur dass es bei der AHV für viele Menschen ums Überleben geht. Es ist nachvollziehbar, wenn die eigene Befindlichkeit als Handlungsanleitung dient, aber wer sagt, «ich brauche keine 13. Rente», der meint ja eigentlich: «Weil ich sie nicht nötig hab, sollen auch alle anderen keine haben», und das ist nur noch schäbig, und nicht etwa verantwortungsbewusst, wie uns der Altbundesrat weismachen will. 

Irre ich mich, oder wird Politik immer irrationaler? Geht die Vernunft als Handlungsanleitung flöten? Hat sich Donald Trump als «role model» des politischen Handelns auch bei uns durchgesetzt? Was, zum Henker, ist an einem Versicherungssystem so schwierig zu verstehen? (Einmal raten, wofür das «V» in «AHV» steht!) Hab ich jemals in meinem ganzen Leben eine Wasserschadenversicherung benötigt, hä? Und trotzdem finde ich nicht, dass man sie abschaffen soll. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Politik ohne eigene Befindlichkeit ist nicht toll, sondern abgehoben. Aber nur die eigene Befindlichkeit als Richtschnur ist schlimmer.

Zudem: Niemand merkt, dass wir diese ganze elendige Debatte nur darum führen, weil die «Wissenschaft» namens Ökonomie die unbezahlte Arbeit wie immer ausblendet. Gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen muss man 44 Jahre faktisch zu 100 Prozent bezahlt arbeiten, um eine Maximalrente zu erreichen! Nur so können Sie das Versprechen der Bundesverfassung, dass die AHV zum Überleben ausreicht, so einigermassen einlösen. Das ist aber eine Berufskarriere, die kaum jemand vorweisen kann, schon gar nicht Menschen mit einer verlängerten Ausbildung, einer Babypause, Arbeitslose, Krankheitsbetroffene, Eltern etc. All diese Leute waren nicht faul, sondern sie haben zum grossen Teil unbezahlt gearbeitet, vorab in der Carearbeit. Vermutlich kann man ruhig behaupten, dass nicht nur die aktuell 30 Prozent der Berufstätigen, sondern 80 oder 90 Prozent eine Maximalrente zugut hätten. Wenn denn das BIP wirklich richtig berechnet würde. Aber wer unbezahlt arbeitet, hat auch keine Abgaben entrichtet und bekommt daher auch keine Rente. Das nennt man dann «fair». Man kann’s aber auch Verfassungsbruch nennen.

Abstimmungskampagnen werden zunehmend faktenfreier, wie Daniel Binswanger in der ‹Republik› feststellte. Es soll eine uralte biologische Einrichtung von uns Menschen sein, dass wir Angst vor dem Unbekannten haben, weil nur solche In­stinkte das Überleben sicherten. Das wird grad von der Gegnerschaft einer 13. AHV-Rente tüchtig ausgenutzt. Es gilt aber dennoch: Wer will, dass die AHV auch künftig eine tragende Säule der Altersvorsorge bleibt, muss ein JA zur 13. Rente einlegen.

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