Man liest in diesen Tagen derart viel übers Verzichten, dass es einen kalt über den mit drei Pullovern bedeckten Rücken läuft. Zum Ausgleich hier mal eine gute Nachricht: 98 Prozent davon sind Quatsch. Es folgt die Wahrheit.
Im Ernst: Ich halte nicht viel von «Verzicht», aber nicht, wie die meisten Menschen, wegen der Sache, sondern wegen dem Begriff. Ich habe erstens Mühe mit dem leichtfertigen Umgang damit – fragen Sie mal eine Ukrainerin, ob 18 oder 19 Grad in ihrer zerbombten Stube angemessen seien –, und zweitens ist der Begriff derart subjektiv, dass er weniger als nichts aussagt. Wenn es jemandem tatsächlich echt Bauchschmerzen machen sollte, wenn er oder sie auf den Zweit-Ferrari verzichten muss, dann ist es eben so. Darüber streiten macht wenig Sinn, auch wenn ich natürlich den leisen Verdacht teile, dass 98 Prozent des Gemeckers über «Verzicht» pure Wohlstandsverwahrlosung ist. Das hängt damit zusammen, dass wir dabei immer nur an Konsumgüter denken. Dass ich seit Jahrzehnten in dieser Stadt auf etwas mehr Ruhe, saubere Luft und auf jede Menge Platz verzichten muss, der durch fette SUVs okkupiert wird, das interessiert niemanden. Und wenn schon Materielles: Dass viele Menschen unter und knapp über der Armutsgrenze, auf ganz viele Dinge verzichten müssen, interessiert auch niemanden. (Und diesen Gedanken dürfen Sie ruhig global fertigdenken.)
Der Grund dafür ist einfach: «Verzicht» ist zwar ein inhaltsleerer, aber genau darum ein mächtiger politischer Begriff. Man kann das Wort gut einsetzen, um zu drohen, weil es negativ besetzt ist. Und genau hier beginnen die 98 Prozent Quatsch. «Verzicht» wird immer dann in Stellung gebracht, wenn man etwas abschiessen will, wie etwa Netto-Null-Programme oder aktuell bei der Energiemangellage. (Auch wenn wir uns einig sind, dass das neuste Sparprogramm des Bundesrates eine Lachnummer ist.) Das hat viel mit dem Erschrecken darüber zu tun, dass man sein Verhalten ändern müsste. Etwa bei der Suffzienzstrategie. Sie wird in 98 Prozent aller Fälle falsch definiert. Suffizienz ist weder Einschränkung noch esoterische Genügsamkeit, sondern nichts anderes als ein Vorgehen, das Grenzen er- und anerkennt. Suffizienz ist daher so banal und alltäglich wie atmen. Wir alle benehmen uns in 98 Prozent unseres Daseins suffizient, indem wir mit dem auskommen, was wir haben, notabene egal, ob knurrend oder freudig. (In den restlichen zwei Prozent machen wir Schulden.) Nur, und jetzt wird es grotesk: Kollektiv benehmen wir uns genau gegenteilig, weil wir die absolute Grenze von «einer Erde» nicht anerkennen und so leben, wie wenn es drei davon geben würde.
Mit Verzicht hat das bis hierhin noch rein gar nichts zu tun. Aber jetzt kommts: Wenn wir uns wirklich suffizient benehmen, die globale Grenze akzeptieren, die eine Erde also gerecht aufteilen wollen, müssen wir unseren Lebensstil ändern. Es gibt tonnenweise Möglichkeiten dazu, «Verzicht» ist nur eine. In der Regel die dümmste und unkreativste. Zudem verbaut der Begriff einem die Sicht auf den Gewinn, den wir mit Suffizienz erhalten: ein besseres Leben. Wenn Sie nicht «verzichten» wollen, dann tun Sie’s doch einfach nicht. Was Sie aber ultimativ tun müssen: Sich überlegen, was Sie zu einem guten Leben brauchen. In der Regel kommt dann der Zweit-Ferrari nicht vor. Das gute Leben, gar ein gutes für alle, gibt es nur jenseits von Wachstum und Verschwendung. Darin hat auch ein Begriff wie «Verzicht» keine Daseinsberechtigung mehr.
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