Artikel, p.s. Zeitung

Standortbestimmung

Auch ich habe nach den Kantonswahlen eine Standortbestimmung durchgeführt. Das war gar nicht so einfach, weil ich grad das Gefühl habe, dass mir der Standort allerorten wegrutscht. Stand zu fassen ist schwierig, egal, ob man die GLP und die FDP wirtschaftspolitisch auseinander halten kann. Nehmen wir zum Beispiel die Energiepolitik: Nachdem endlich alle eingesehen haben, dass wir nicht mehr Milliarden für fossilen Dreck ins Ausland schaufeln, sondern uns einheimisch und erneuerbar versorgen sollten, was gut für die Umwelt, die Versorgungssicherheit, die Wirtschaft und fürs nationale Gemüt wäre, wird das von Ölbert Rösti und Konsorten flugs in eine Aktion «Au fein, hauen wir ein paar Naturschutzgebiete in die Pfanne!» umfunktioniert. Und schon ist man in der Defensive («so haben wir das nicht gemeint») und findet sich im falschen Lager wieder, zusammen mit denen, die Windrädli schon immer daneben fanden.

Dasselbe beim Militär. Dass wir die Ukraine unterstützen müssen, ist komplett unbestritten. Aber dass dies subito dazu benutzt wird, eine Rüstungs- und eine Neutralitätsdebatte anzureissen, aber nicht fertig zu debattieren, obschon beide, um im Jargon zu bleiben, heikle Minenfelder sind, die man lieber nicht unter Stress abhandeln sollte, ist nicht hilfreich. Wem es wirklich um Hilfe geht, der könnte sich meinem Vorschlag anschliessen, unser Armeebudget ein, zwei Jahre der Ukraine zu überweisen, zur freien Verfügung. Das ist neutralitätspolitisch neutral, denn wir schanzen ja den Russen mit dem Öl- und Gashandel, der über Firmen in Zug und Genf läuft, ebenfalls Milliardenerträge zu. Unsere Armee wird dafür solange aufs Eis gelegt, denn die Demokratie wird bekanntlich heuer in der Ukraine verteidigt. Dass notabene unser ungebrauchtes Gaskraftwerk, das eine halbe Milliarde Franken gekostet hat, in Birr unnötig, aber in der Ukraine dringend nötig ist, wurde auch schon erwähnt.

Oder dann die Altersvorsorge. Nachdem sich jetzt alle einig sind, dass die 2. Säule nicht funktioniert, weder bei den zu erzielenden Renditen noch bei den Verwaltungskosten noch bei den Tieflöhnerinnen noch bei den Teilzeitarbeitenden, werden nur noch alte Reflexe bedient, die da sind: länger arbeiten und tiefere Renten auszahlen. Die Frauen werden mit dem aktuellen Vorschlag der bürgerlichen Parlamentsmehrheit einmal mehr verarscht – vom verweigerten AHV-Teuerungsausgleich wollen wir gar nicht reden –, und der Elefant im Raum wird weiterhin ignoriert. Nämlich, dass es eine neue Einnahmequelle braucht, egal ob eine Erbschaftssteuer 2.0, (die fairste, liberalste und naheliegendste Lösung), eine Finanztransaktionssteuer oder was auch immer. Man will nicht einmal darüber diskutieren. Denkverweigerung wo man hinguckt. Aber die wahre Front verläuft nicht zwischen Mann und Frau oder zwischen Jung und Alt, sondern immer noch zwischen Arm und Reich. Und wer das systemfremd findet, weil die 2. Säule schliesslich keine Solidar-Kuschel-Institution sei, der kann sich ja der Idee anschliessen, sie aufzulösen und die AHV damit zu alimentieren. Ich hab immer noch kein schlüssiges Argument dagegen gehört.

Mir schwirrt der Kopf. Dass akute Krisen dazu instrumentalisiert werden, um sein eigenes Süppchen darauf zu kochen, damit muss man in der Politik immer rechnen, das mach ich ja auch. Aber irgendwelche pervertierten Ideen, siehe Beispiele oben, erpresserisch als Lösung zu bezeichnen, ist miese Küche. Nicht alles kann als «Standortbestimmung» gerechtfertigt werden.

 

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