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Über Befindlichkeiten

Menschen werden bei ihren Entscheidungen eher von ihrer Befindlichkeit und von Emotionen geprägt als vom Verstand. Gekauft. Wissen wir längst. Aber im Moment übertreibt man es ein bisschen damit. Auch Menschen, die eigentlich wissen, wie unsere drei Säulen der Altersvorsorge funktionieren, oder was ein Umlage-, sprich Solidarsystem ist, kolportieren Unsinn, wie etwa den von der «Giesskanne». Das ist gefühlt richtig, aber rational falsch. Neun von zehn Menschen erhalten mehr AHV-Rente, als sie einbezahlt haben. Die Differenz bezahlte ihnen Christoph Blocher. Das ist ein effektiver und erwünschter sozialer Ausgleich. Wer sich darüber aufregt, dass auch Blocher einen 13. bekommen soll, kann sich genauso gut darüber empören, dass auch Blocher im Herrliberger Grossverteiler vom Aktions-Rindsfilet profitiert. Giesskanne überall, nur dass es bei der AHV für viele Menschen ums Überleben geht. Es ist nachvollziehbar, wenn die eigene Befindlichkeit als Handlungsanleitung dient, aber wer sagt, «ich brauche keine 13. Rente», der meint ja eigentlich: «Weil ich sie nicht nötig hab, sollen auch alle anderen keine haben», und das ist nur noch schäbig, und nicht etwa verantwortungsbewusst, wie uns der Altbundesrat weismachen will. 

Irre ich mich, oder wird Politik immer irrationaler? Geht die Vernunft als Handlungsanleitung flöten? Hat sich Donald Trump als «role model» des politischen Handelns auch bei uns durchgesetzt? Was, zum Henker, ist an einem Versicherungssystem so schwierig zu verstehen? (Einmal raten, wofür das «V» in «AHV» steht!) Hab ich jemals in meinem ganzen Leben eine Wasserschadenversicherung benötigt, hä? Und trotzdem finde ich nicht, dass man sie abschaffen soll. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Politik ohne eigene Befindlichkeit ist nicht toll, sondern abgehoben. Aber nur die eigene Befindlichkeit als Richtschnur ist schlimmer.

Zudem: Niemand merkt, dass wir diese ganze elendige Debatte nur darum führen, weil die «Wissenschaft» namens Ökonomie die unbezahlte Arbeit wie immer ausblendet. Gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen muss man 44 Jahre faktisch zu 100 Prozent bezahlt arbeiten, um eine Maximalrente zu erreichen! Nur so können Sie das Versprechen der Bundesverfassung, dass die AHV zum Überleben ausreicht, so einigermassen einlösen. Das ist aber eine Berufskarriere, die kaum jemand vorweisen kann, schon gar nicht Menschen mit einer verlängerten Ausbildung, einer Babypause, Arbeitslose, Krankheitsbetroffene, Eltern etc. All diese Leute waren nicht faul, sondern sie haben zum grossen Teil unbezahlt gearbeitet, vorab in der Carearbeit. Vermutlich kann man ruhig behaupten, dass nicht nur die aktuell 30 Prozent der Berufstätigen, sondern 80 oder 90 Prozent eine Maximalrente zugut hätten. Wenn denn das BIP wirklich richtig berechnet würde. Aber wer unbezahlt arbeitet, hat auch keine Abgaben entrichtet und bekommt daher auch keine Rente. Das nennt man dann «fair». Man kann’s aber auch Verfassungsbruch nennen.

Abstimmungskampagnen werden zunehmend faktenfreier, wie Daniel Binswanger in der ‹Republik› feststellte. Es soll eine uralte biologische Einrichtung von uns Menschen sein, dass wir Angst vor dem Unbekannten haben, weil nur solche In­stinkte das Überleben sicherten. Das wird grad von der Gegnerschaft einer 13. AHV-Rente tüchtig ausgenutzt. Es gilt aber dennoch: Wer will, dass die AHV auch künftig eine tragende Säule der Altersvorsorge bleibt, muss ein JA zur 13. Rente einlegen.

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Schnauze voll

Das neue Jahr war grad mal fünf Tage alt, und schon wurde die dümmste Schlagzeile 2024 gedruckt: diejenige von der Jugend, die den grössten ökologischen Fussabdruck habe. Michael Hermann, der Leiter der entsprechenden Studie, kam zwar auch zu Wort mit seiner entscheidenden Präzisierung, dass es einige wenige Personen in dieser Generation seien, welche vor allem mit Flugreisen den Emissions-Output im Schnitt verhageln und dass es nicht statthaft sei, eine ganze Altersklasse in Sippenhaftung zu nehmen – aber der Schaden war natürlich angerichtet.  Wir sehen einmal mehr zu, wie gewisse Medien ihr Framing, wie man das heute nennt, zurechtsägen: Weck den Eindruck, dass die Altersklasse, die am meisten vom Klimawandel betroffen ist, sich am wenigsten darum kümmert und schon bleibt von der Lektüre nur das kleben: «Jänu, soo gravierend kann das mit diesem Klima gar nicht sein, die Jungen juckts ja auch nicht.» Klappe zu, Affe tot. So macht man Politik. Und sie funktioniert: Weiter unten ist dann von der pompösen Prozentzahl von Leuten die Rede, welche die Schnauze bereits voll vom Klimagedöns haben. Super-Einstellung, Leute! Voll hilfreich, um das Netto-Null-Ziel zu erreichen.

Generell hat man den Eindruck, dass die Debatte über Klima, Ökologie oder Ressourcen nicht gerade sehr erwachsen ist. Man sieht das am besten in Deutschland, wo man sich aktuell die Augen reiben muss. Die Grüne Bewegung ist sich ja allerhand gewöhnt, aber ein derartiger Hass ist denn doch bemerkenswert. Die Grünen sind ja nur die profiliertesten Überbringer der Botschaft, dass sich Wirtschaft und Gesellschaft fundamental verändern müssen, wenn wir die Klimakatastrophe bewältigen wollen. Aber die Devise «Don’t shoot the messenger» gilt hier gar nichts. Wut und Ärger entladen sich über dem Habeck, wie wenn er allen persönlich die Kohlenheizung aus dem Keller reissen würde. Und dass die Bauernsame es mit ihren Träckis hundertmal besser als die Klimakleber:innen schafft, Strassen und Autobahnen lahmzulegen, ist nebst einem grossen Witz auch eine grosse Stellvertreterfarce: Man kann den Grünen Sack (samt Regierung) schon schlagen, der grosse Esel namens Transformation bleibt aber stur stehen.

Mit «erwachsen» meine ich die schlichte Tatsache, dass die Zeit der Spielchen bei einer erheblichen Zahl von Problemen schon lange vorbei ist. Und da geht es genau nicht um die bis zum Abwinken verbreitete Meinung, ‹beide› Seiten müssten sich bewegen. Das ist blühender Blödsinn. Ein Pariser Klimaabkommen oder ein Netto-Null-Ziel lässt sich nicht mit Kompromissen erreichen, schon gar nicht innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit. In Anbetracht, dass wir beim Ersatz der fossilen Energien zwei bis drei Jahrzehnte verschlafen haben, ist es evident, dass nur noch konsequentes Handeln infrage kommt.  Selbstverständlich weckt das Verlustängste, Unwillen und Ärger, selbstverständlich ist das eine mögliche Quelle für die Vergrösserung des Grabens zwischen Arm und Reich. Aber das sind bekannte Probleme, die auch angegangen werden könnten, wenn man denn wollte. Traktordemos dagegen oder auch die Mätzchen der Bürgerlichen in unserem Land (Ständerat! CO₂-Gesetz!), sind unnötige Rückzugsgefechte. Vermutlich wird es allerdings noch mehr davon in diesem Jahr geben, denken wir nur an die USA, an die AfD und an alle anderen Rollbacks, die auf uns zukommen. Irgendwie habe ich kein gutes Gefühl für dieses Jahr. Vielleicht muss es tatsächlich dunkler werden, bevor es heller wird.

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Vom Festtagsbraten

Die Sonntagsverkäufe sind abgehakt, die Konsumorgie namens Advent liegt für ein Jahr hinter uns, die Verkäuferinnen können durchatmen. Nun noch schnell das Feiertagsfilet verputzen, dreimal rülpsen, die Päckli auswickeln und das Fitnessabo erneuern. Oder was halt sonst an Festtagsklischees so ansteht. Wobei leider das meiste nackte Realität ist. Das folgende allerdings auch: Jeden Montag stehen über 60 Personen (seitdem die Ukraine-Flüchtlinge sich ins System eingeschlauft haben, eher gegen 70) bei der Abgabestelle Oerlikon der Organisation «Tischlein deck dich» an, (wo ich seit über einem Jahr arbeite, daher weiss ich das). TDD  ist eine nationalen Organisation gegen Lebensmittelverschwendung und für die Unterstützung von Armutsbetroffenen. Wer bei uns bezugsberechtigt ist, erhält für den Gegenwert von einem symbolischen Franken wöchentlich ein Poschtiwägeli voller Lebensmittel, die von Grossverteilern gratis geliefert werden, worauf sie von unbezahlten Freiwilligen in Räumen, die von den Besitzern ebenfalls gratis zur Verfügung gestellt werden, an die Bezugsberechtigten verteilt werden.

TDD betreibt alleine in der Stadt sechs Abgabestellen (156 im Land), versorgt also über tausend Menschen. Dazu kommen Projekte wie das vom Verein Incontro an der Langstrasse oder das von Amine Diare Conde in der Autonomen Schule. An beiden Orten stehen tausende von Menschen Schlange, bei Wind und Wetter und Saukälte. Dann gibt es Sozialwerke wie die Heilsarmee oder von Pfarrer Sieber, die ebenfalls Lebensmittel günstig oder gratis abgeben oder Suppenküchen betreiben. Da kommen nochmals hunderte Hungrige hinzu. Und das in der reichsten Stadt des reichsten Landes der Welt.

Es ist nicht ganz einfach herauszufinden, warum das so ist, und zugleich ist es simpel. Manche finden sich schlicht und einfach nicht zurecht im Dschungel unserer Sozialinstitutionen; sie beanspruchen zum Beispiel keine Ergänzungsleistungen, obwohl sie ein Anrecht darauf hätten. Manch andere haben eine zu grosse Familie – sieben bis elf Köpfe sind bei uns nicht selten – und einen zu kleinen Lohn, als dass das Einkommen ausreichen würde. Manche wiederum sind überhaupt nicht in unser Sozialsystem eingebunden, und bei manchen wissen wir schlicht nicht, warum sie bei uns sind. Bezugsberechtigt sind sie nur über eine gewisse Bürokratie, man braucht eine Bezugskarte von einer Sozialfachstelle – ohne Grund und Aufwand gibts in unserem Land nichts.

Das ist der eine Skandal, der andere ist die Lebensmittelverschwendung. Sie ahnen gar nicht, wie viel einwandfreie, tipptoppe Ware bei uns abgegeben und damit vor dem Chübel gerettet wird. Manches davon ist der reine Industriedreck – anders kann man das nicht nennen –, aber es gibt auch viele leckere und gesunde Lebensmittel, auch vegane (hüstel, die bleiben halt oft im Laden liegen…). Mit den statistischen 330 Kilo Lebensmitteln pro Kopf und Jahr, die wir wegschmeissen, könnten jede von uns eine weitere Person verköstigen – eine 16-Millionen-Schweiz wäre versorgbar. Ich weiss manchmal gar nicht, auf welcher Grundlage eigentlich bei uns Landwirtschaftsdebatten geführt werden, die Lage ist komplett grotesk. Und dass die Lebensmittelabgabe für Bedürftige da natürlich nur ein winziger Tropfen auf heissen Steinen darstellt, ist auch klar, aber gäng söfu. – So. Genug für dieses Jahr. Ich bitte um Entschuldigung. Ich wollte Ihnen nicht den veganen Festtagsbraten vermiesen. Sie haben ihn sich verdient. Aber eben nicht nur Sie.

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Mangellage

Eigentlich liegen alle Karten schon lange auf dem Tisch. Die fossilen Energien haben hierzulande ausgespielt, ihr Ende ist nur noch eine Frage einiger Jahre, AKW sind und bleiben weder erneuerbar noch ökonomisch noch im Moment politisch durchsetzbar, es fehlt an Winterstrom, und es gibt eine Reihe von Rezepten, wie man Abhilfe schaffen könnte. Die meisten davon sind reine Interessenvertretung oder Machtgehabe, und es gehört auch zum Handwerk, dass man die Rezepte des Gegners zünftig abkanzelt. So zum Beispiel beim Solarexpress, wo die Linken schon seit Jahrzehnten sagen, dass man nicht nur fürschi machen muss, sondern sie sagen auch wie, nämlich mit Photovoltaik auf bestehenden Infrastrukturbauten, und sie haben auch nachgewiesen, dass das ausreichen würde. Aber das wäre ja nicht im Interesse derer, die den Solarexpress unbedingt über ein paar Naturschutzgebiete und Alpenwiesen rollen lassen wollen, oder die ihre sinnlosen AKW-Projekte im Nachhinein vergolden wollen, oder die vernebeln wollen, dass der Bundesrat das Stromabkommen mit der EU vergeigt hat, oder die ganz einfach nicht zugeben können, dass die Mangellage so gesehen eine reine Drohkulisse ist. Und wie immer geht es auch darum, den Schwarzen Verhinderungs-Peter weiterzugeben, was dann so lustige Blüten trägt wie etwa den Hotelier Bodenmann, der in Zeiten steckengeblieben ist, wo das Schimpfen auf die Grünen noch geholfen hat.

Wir erleben eine verdrehte Art des Machtkampfs in verschiedenen Formen: Lufthoheit über den Stammtischen («Die Zuwanderung ist schuld!»), Kochen eigener Süppchen («Endlich können wir mal diese doofe Restwassermenge bodigen!»), oder taktisches Schwächen des Gegners («Der Landschaftsschutz schadet unserer Energiewirtschaft!»). Man gibt sich als Opfer («Uäääh! Denkverbot!») oder pflegt, wie Bundesrat Rösti, seine versteckte (Atom-)Agenda. Und natürlich war Wahlkampf, da ist eine Debatte sowieso unmöglich. Nur eines will man nicht: Das Problem anpacken. Was es denn erst zu einem macht. –  Muss ich mich denn unbedingt wiederholen? Ich find’s ja selber langsam langweilig: Stromsparpotenzial von über 30 Prozent subito realisieren, Verschwendung subito abstellen, am einfachsten mittels Verboten, Elektroautos besteuern, kluge Konzepte wie etwa «ewz.solarzüri» schweizweit einführen, Solardachpflicht ausweiten, in Netzstabilität investieren, Stromabkommen mit der EU schliessen, hab ich was vergessen? Ach ja: Klug wählen, aber das ist jetzt schon um die Ecke.

Wenn man am Wahlabend bestimmten Parteipräsidenten zugesehen hat, wie sie ganz süferli den Boden für neue AKW bereiten wollten, indem sie ominös von CO2-freier Erzeugung schwadronierten, aber Atommüll damit meinten, dann ahnt man, wie mühsam die nächsten Jahre werden. Man kann zusehen, wie langsam, aber sicher am Framing für «Lösungen» gewerkelt wird, die weder nachhaltig noch ökologisch sein werden. Es stimmt schon: Der Ukrainekrieg hat unserem Mut zu möglichst lokaler und gänzlich fossilfreier Energieversorgung einen gewaltigen Dämpfer verpasst. «Versorgungssicherheit» ist wieder prägend auf der Agenda und wird zur Angstmache eingesetzt. Was dann so groteske Folgen hat wie diejenige, dass der Import von Flüssiggas sich als eine ökologische Katastrophe entpuppt, schlimmer noch als Kohle. Derweil nehmen die globalen Temperaturen weiter zu, und sogar das Ozonloch meldet sich zurück. Rückschritt statt blühende Landschaften. Und die Mangellage bei der Zeit wird immer schlimmer.

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Nachlese

So. Nachdem sich nun alle wieder erholt haben von all den Erd- und Rechtsrutschen und die Zahlen hoffentlich stimmen, könnten wir dann wieder über Politik reden? Ja? Gut. – Wahlen bedeuten, alleine gesehen, noch nichts. Manchmal erinnern sie eher an einen Markttest à la «Ariel oder Held?» Und wenn sich dann fast 30 Prozent für Ariel entscheiden, ist noch rein gar nichts über die Waschkraft dieser Entscheidung gesagt. Dass die SVP die wahlstärkste Partei der Schweiz ist, ist nur vielleicht wichtig. Viel wichtiger ist, dass sie es (leider) schafft, den Medien ihre Themenagenda aufzuzwingen, dass sie den Bereich des Sagbaren immer weiter nach rechts rückt, oder dass sie die anderen bürgerlichen Parteien in der Migrations- oder Europapolitik vor sich her treibt. Das schaffte sie aber auch schon mit viel geringerem Wahlanteil. Darin und in der Lufthoheit über den Stammtischen liegt ihre Macht, ansonsten ist sie politisch völlig randständig. Die SVP gewinnt nur, wenn die anderen bürgerlichen Parteien mitziehen.

Wir lernen: Das Volk hat immer Recht, nicht nur dort, wo es SVP wählt, sondern auch und gerade dann, wenn es danach in den Abstimmungen so manche SVP-«Lösung» ablehnt («Begrenzungsinitiative»). Das Wort «Lösungen» gehört meines Erachtens sowieso verboten in den nächsten Jahren. Erinnern Sie sich noch an die «Lösung» von Natalie Rickli bei den hohen Krankenkassenprämien? Sie empfahl de facto die Abschaffung der obligatorischen Grundversicherung, was etwa so intelligent ist, wie wenn ich Kopfabschneiden als Lösung bei Kopfweh empfehlen täte. Es geht also nicht um Lösungen auf Teufel komm raus, sonst könnte man ja einfach das Grüne Parteiprogramm nehmen und eins zu eins umsetzen.

Ich sehe aber nicht, wie sich die Lösungsfindungskompetenz des Parlaments in den nächsten vier Jahren verbessern sollte. Die bürgerliche Mehrheit inkl. Mitte hat in den letzten vier – ach was: in den letzten 175 Jahren zum heutigen Reformstau geführt. Höchstens Druck aus dem Ausland machte dem Parlament Beine. Daher sind neue Demokratie-Rezepte gefragt, nicht nur bei der Zauberformel. – Die beste Wahlanalysesendung im Schweizer Fernsehen wurde vor der Wahl ausgestrahlt: Ein Philosophischer Stammtisch am Wahlmorgen zum Thema Demokratie. Die Historikerin Hedwig Richter brachte eine unkonventionelle und fruchtbare Sicht ein, indem sie die direktdemokratische Behäbigkeit infrage stellte, die zwar «verhebige» und breit abgestützte Resultate liefert, das aber oft mit grandioser Langsamkeit. Darauf sind wir zwar stolz, aber vielleicht können wir uns das immer weniger leisten. Dagegen postulierte Richter die zunehmende Notwendigkeit, in Zeiten der «big challenges» schnell, konsequent und vor allem: effektiv reagieren zu können, was in einer repräsentativen Demokratie besser der Fall sei. Das reflektiert, auch wenn es unschweizerisch sein mag, die Stimmung der Klimajugend (oder von uns Altersungeduldigen) wesentlich besser, die in politischen Sachfragen endlich Fortschritte sehen will, bei denen nun wirklich mehr als klar ist, dass sie keinerlei Geblöterle mehr dulden. Wir sollten endlich wieder mehr das tun, was nötig ist und nicht, was möglich ist, und das ist nicht nur abhängig von den Wahlanteilen. Allerdings steht dabei, in Anbetracht der Mehrheitsverhältnisse im neuen Parlament, die politische Mitte, wer immer sich dazuzählt, in der Pflicht. Und dazu müsste sie sich entscheiden und die progressiven Kräfte unterstützen.

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Jenseits von 9 Millionen

Ich kann nichts anfangen mit dem Gejammer über die 9-Millionen-Schweiz. Ja, die Züge sind manchmal voll, aber nach einem Vierteljahrhundert Pendeln zwischen Züri und Winti muss ich sagen: Das waren sie schon zur Zeit von 7 Millionen. Auch ein Gemoschte am Morgen und am Abend kann die Tatsache nicht überdecken, dass der Gesamtauslastungsgrad der SBB bei nur einem Drittel liegt. Wer auch in Stosszeiten unbedingt freie Plätze will, will daher auch einen tieferen Deckungsgrad. Und das ist eine Kostenfrage, oder in leichter Sprache: Sauteuer. – Andere Probleme der 9-Millionen sind hausgemacht, etwa wenn das bürgerliche Parlament alle wissenschaftlichen Fakten ignoriert und grad mal wieder Autobahnen verbreitern will. Es handelt sich da – pardon, wenn ich offene Türen einrenne, aber die in Bern haben das nicht kapiert – um einen klassischen Reboundeffekt, um ein Gesetz aus der Systemtheorie, das sehr vereinfacht besagt, dass mehr Strassen­angebot auch mehr Strassennachfrage generiert. Solche Effekte sind keine Frage menschlicher Unzulänglichkeit, sondern sie laufen zwingend ab, weil die Anreize entsprechend gesetzt werden: Ich sehe, dass mehr Kapazität vorhanden ist, also benutze ich sie auch. Und weil wir das alle tun, sind wir flugs wieder Stau. Wer Strassen sät, wird Verkehr ernten. Auch ohne Bevölkerungszunahme.

Noch falscher wird’s, wenn behauptete Folgen der Bevölkerungsentwicklung, «die gefährdete Stromversorgung, die schlechtere Qualität unserer Schulen und die zunehmende Kriminalität» (Blocher – puh, dieses Herrliberg muss ja die pure Hölle sein!), entweder gar keine sind, oder dann schlicht die Folgen einer falschen Politik, die man auch lassen könnte. Wenn die Bauernsame Nahrung für Tiere statt für Menschen anbauen will, wenn die bürgerlichen Mehrheiten weiterhin fossile Energieträger unterstützen, wenn nicht mal bestehende Gesetze zur Kostenmiete korrekt vollzogen werden, oder wenn die bürgerlichen Lobbyisten in der Gesundheitskommission alle Ansätze zur Prämiensenkung vereiteln, dann muss man halt die Schuld der Zuwanderung in die Schuhe schieben, weil man ja irgendwie vom eigenen Versagen ablenken muss. Über Strassenausbauten zu debattieren in einer Gesellschaft, in der (zu) viele Autofahrten überflüssig sind, ist pervers. Über die mangelnde Lebensmittelselbstversorgung zu jammern in einer Gesellschaft, die pro Kopf mehr als 330 Kilo essbare Lebensmittel fortschmeisst, ist krank. Über Wohnungsnot zu klönen, derweil die institutionellen Investoren unverblümt sagen, es sei nicht ihre Aufgabe, mehr günstigen Wohnraum zu bauen, sondern möglichst hohe Renditen zu erzielen, ist zynisch. Oder Wahlkampf.

Eine 9-, ja auch eine 10-Millionen-Schweiz ist möglich, das steht ausser Frage. Ob sie nötig ist, das steht auf einem anderen Blatt. Dazu müsste man sich zur Abwechslung mal über Ziel und Zweck von Wachstum unterhalten. Wer aber polemisch nur auf die schiere Zahl zielt oder rassistisch auf die Art der Zuwanderung, lenkt ab von den eigentlichen Fragen: Wie wollen wir uns entwickeln? Wie verteilen wir die Güter gerecht? Wie gehen wir mit Knappheiten um? Wie mit der Demografie? Und wie war das nochmals mit der nachhaltigen Entwicklung, Netto-null und weiteren Sonntagspredigten? Das alles sind nämlich Fragen, die auch eine 3-, 5- oder 7-Mio-Schweiz beantworten müsste. Wir haben zu viele Reformstaus, nicht zu viel Zuwanderung. – So, und nun, hopp, ab mit Ihnen an die Urnen! Und wählen Sie ums Himmels Willen weise!

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Über Toleranz

Manchmal passiert es mir immer noch, dass ich fast schon körperlich leide, wenn ich bestimmte Artikel lese. Zum Beispiel all diesen Quark betreffend Toleranz, und dass nur politisch eingemittete Menschen dazu fähig seien. Meist wird dabei nicht wirklich definiert, was unter dieser ominösen Toleranz überhaupt zu verstehen ist. In wissenschaftlichen Studien wird zwar die Literatur zusammengetragen, aber sie wird nicht verarbeitet. Was herauskommt, geht über die Aussage, dass extreme Ansichten tendenziell intolerant seien, kaum hinaus, wobei tunlichst vermieden wird zu begründen, warum, weil man die inhaltliche Debatte ja weglässt. Ist ja nicht wissenschaftlich. Und so passiert es, dass eine extreme antisemitische Haltung zum Beispiel einer extremen Haltung in der Klimafrage gleichgesetzt wird. Logo, ist ja beides extrem. Was das ist, wird dann etwa in einer ‹.objektiven› Zehner-Skala wiedergegeben, wobei diese auf Eigendeklaration beruht, was bedeutet, dass alle, die keinen Arsch in der Hose haben, behaupten, sie lägen bei 5. Also gutschweizerisch. Also genau das, was die Wissenschaft «sozial erwünscht» nennt. Was auch erklärt, warum bei den Klimaklebern dann plötzlich alle wieder intolerant sind.

Dirk Baier vom ZHAW-Institut für Delinquenz und Kriminalprävention lieferte unlängst eine abschliessende Studie zum Thema. Dort fasst er auch die aktuellen Erkenntnisse zur Definition von Toleranz zusammen, und man muss schon sagen: Das ist sehr entlarvend. Aus dem einfachen Grund, weil kaum eine Definition zu genügen weiss. Toleranz wird zum Beispiel sehr oft mit «Duldung» gleichgesetzt. Aus dieser Sicht muss ich sagen, dass ich als Linker gewaltig tolerant bin, weil ich schon seit mehr als einem halben Jahrhundert die bürgerliche Mehrheit in diesem Land klaglos erdulde. Naja, fast klaglos. Erdulden ist allerdings noch lange nicht tolerant. Aussagen wie «Wir dulden Flüchtlinge, solange sie uns nicht stören» illustrieren das. Und ja, links und rechts sind da nicht gleich. Aber ob etwa die wissenschaftlich belegte Erkenntnis, «je mehr rechts, desto homophober» dazu beiträgt, die Toleranz auf der rechten Seite des Politspektrums zu beweisen, oder ob die rechte Toleranz Putin gegenüber wirklich so vorbildlich ist: Naja. Baier belegt in einer anderen Studie über Schweizer Jugendliche auch, «dass die Affinität zu linken Parteien der Schweiz mit niedrigerer Zustimmung zu ausländerfeindlichen, muslimfeindlichen und antisemitischen Einstellungen einhergeht.» Aha. Daher sind Schlagzeilen über die linke Intoleranz nicht mehr, als was sie sind: Wahlkampf.

Dabei sind sie natürlich voll korrekt! Ich gestehe hiermit, ich bin fanatisch intolerant, weil ich eine ganze Menge nicht dulde, etwa, dass man im Namen des Mammons unser Klima zerstört, oder dass man im Namen des Herrn Kinder fickt, und so weiter: Ich könnte Seiten füllen mit meiner Intoleranz. Aber lassen wir zum Schluss doch lieber nochmals Dirk Baier zu Wort kommen. Sein Fazit: «Politisch ‹links› eingestellte Befragte sind nicht konsistent intoleranter eingestellt als politisch ‹rechts› eingestellte Befragte. Im Gegenteil gilt, dass eine ‹(eher) linke› politische Orientierung mit einer stärkeren Befürwortung verschiedener Bevölkerungsgruppen einhergeht und insofern als toleranzsteigernd einzustufen ist.» Aber auch er sagt: «Die Toleranz links-orientierter Befragter ist tatsächlich begrenzt.» Und das finde ich sehr gut so. Ich nenne es: Haltung zeigen.

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Unangenehme Wahrheiten

Soo unverständlich ist es nicht, dass die Grünen in den jüngsten Umfragen schwächeln. Die Frage ist ja auch, ob in den Medien überhaupt ernsthaft kommentiert oder bereits schon Wahlkampf gemacht wird für den Herbst. Wenn etwa die Qualitätszeitung – Gell, Sie wissen schon, dass ich den Begriff seit Jahren ironisch verwende? Das P.S. kann eben keine Zwinkersmileys – es schafft, nach den Zürcher Kantonalwahlen in einer Grafik zu zeigen, dass in den letzten Jahren nur zwei Parteien happig zugelegt haben – einmal raten, welche –, nur um dann auf zwei Textseiten das Gegenteil zu behaupten, dann ist das Kampagnenjournalismus, nichts anderes.

Dennoch: Aktuell verliert Grün. Nur können die Grünen gar nicht beliebt sein, denn sie zerstören Illusionen. Etwa die von der Unendlichkeit der Ressourcen. Oder die vom technischen Fortschritt. Oder die vom andauernden Wachstum. Sie kennen vermutlich das Bonmot, dass alle den Verrat lieben, aber niemand den Verräter. So lieben im Moment alle, sogar Ölbert, das Klima, aber niemand liebt es, wenn die Grünen behaupten, dass wir unser Verhalten ändern müssen, um es zu retten. Alle lieben mittlerweile die Energieautarkie, aber niemand liebt den Überbringer der weniger kuscheligen Nachricht, dass man dazu zuerst den eigenen Energiekonsum überdenken müsste. WählerInnen wählen immer diejenige Parteien, welchen sie eine Lösung der gerade anstehenden Probleme am ehesten zutrauen – und die Grünen haben nun wirklich keine Lösung für die anstehenden Probleme, zumindest keine angenehmen, weil diese Partei immer noch an der «inconvenient truth» (Gore) festhält, statt das Volk, «den grossen Lümmel» (Heine), mit beruhigenden Parolen in den Schlaf zu wiegen. (Stauseen im Naturschutzgebiet lösen das Energieproblem! Den Kopf in den Sand stecken bringt uns weiter bei der EU! Usw.) Ein Beispiel: Alle wissen mittlerweile, dass unsere Wirtschaft so abhängig vom Wachstum ist wie der Junkie vom Gift. Was empfehlen die Grünen? Kalten Entzug. Was empfiehlt die GLP? Umsteigen auf Methadon. Was empfiehlt die FDP? Nichts tun, der Markt regelt das. Glaubs wohl, dass niemand Grün geil findet.

Man könnte meinen, Wahlumfragen seien Beliebtheitstests – was sie teilweise ja auch sind. Das erklärt, weshalb in Zeiten, in denen es vielen gut geht und keine akuten Bedrohungen herrschen, auch Parteien gewählt werden, die unangenehme Lösungsansätze vertreten, so wie 2019. Unsere kollektive Schlamperei bei der Energiewende oder beim Artensterben, bei der internationalen Sicherheit oder der europäischen Zusammenarbeit, verstärkt durch die Erfahrung der Pandemie, hat uns nun aber derart in die Ecke getrieben, dass wir lieber dem Eiapopeia (Heine) derjenigen Parteien glauben wollen, die uns versichern, es sei alles gar nicht so schlimm, man müsse nur ein kleines bisschen weniger Technologieverbot und eine Prise mehr Eigenverantwortung nehmen (und natürlich vor allem die Zuwanderung abklemmen!), und alles renke sich ein. Das Wahlvolk «favorisiert die Ideologen mit den einfachen Rezepten», wie Daniel Binswanger kommentierte. Ungern hört man Nachrichten wie diejenige von der Energieverschwendung, von den Milliarden, mit denen wir Putins Schlächterei finanzieren, oder von der zunehmenden Ungleichheit, die unsere Gesellschaft zerstört. Je schlimmer das alles wird, desto krasser werden Lösungen für diese Probleme sein, desto weniger wählen wir Parteien, welche solche Lösungen thematisieren. Das ist verständlich. Aber fatal.

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Meienberg R.I.P.

Heuer jährt sich der Tod des Journalisten und Historikers Niklaus Meienberg zum 30sten Mal, und haben ihn wohl die meisten bereits vergessen oder nie gekannt, auch wenn er die nachfolgenden journalistischen Generationen geprägt hat wie kein zweiter. Sympathisch war er mir nie so richtig, und ich zweifle etwas daran, ob er eigentlich ein Linker gewesen ist, die Bezeichnung «stockkatholischer Atheist» trifft es da schon eher. Aber er war ein grandioser Schreiber und Stilist, ein begnadeter Polemiker, ein ausgezeichneter Rechercheur und ein guter Historiker, wenn auch etwas unorthodox, da alles miteinander. Dass er aneckte beim Bürgertum, dem er offenbar gerne angehört hätte, dass er beispielsweise jahrelang Schreibverbot beim Tagi hatte, war eher seiner direkten Art zuzuschreiben, denn er verschonte auch nicht die Hand, die ihn fütterte, und das verzeiht die Bourgeoisie nie.

Als Linker wahrgenommen wurde er deshalb, weil er konsequent Geschichte von unten schrieb und recherchierte. So etwa das Schicksal von Ernst Schrämli, der wegen dem Klau von ein paar Handgranaten, die er an die Nazis lieferte, als Landesverräter hingerichtet wurde, derweilen der Waffenhändler Emil B., den man ohne weiteres als Sauhund bezeichnen muss, weil er den Nazis Kanonen im grossen Stil lieferte, heute noch in der Stadt Zürich verehrt und hochgeachtet wird.

Meienberg hat sich vor dreissig Jahren das Leben genommen. Depressionen waren ihm nicht unbekannt, und zwei Vorfälle mussten ihm das Leben gewaltig vergällt haben. Einerseits ein Raubüberfall auf ihn an seinem Wohnort – «Z’Örlike git’s alles», hätte er wohl dazu geschrieben, denn auch er war nicht immer geschmackssicher –, und zum zweiten war das der Irakkrieg, der ihn mit «den Linken» entzweite, wobei mir nie ganz klar wurde, welche er meinte. Persönlich begegnet sind wir uns auf einer Reportage: Als 1984 Papst Johannes Paul II. in die Schweiz kam, war ich als embedded journalist im Auftrag der damaligen Wochenzeitung ‹Die Region› drei Tage in der Innerschweiz unterwegs. Meienberg war auch da, er schrieb einen Text für die WoZ, in dem er die steile These entwickelte, dass dies unmöglich JPII gewesen sein könne, sondern ein Double – er war Anhänger der Weisheit «se non è vero, è ben’ trovato». Wir tauschten manchmal Beobachtungen aus, wenn wir wieder einmal beide unseren Augen und Ohren nicht trauten, gingen aber meist getrennter Wege. Ich verfolgte eine andere Geschichte, die der völligen Verkommerzialisierung, denn diese drei Tage lieferten die gründliche Korrektur des biblischen Grundlagenirrtums, wonach man nicht zweien Herren dienen könne, Gott und dem Mammon. Wenn’s jemand kann, dann wir. Und der Heilige Stuhl. Die Grossen der Schweizer Literaturprominenz lobten Meienbergs Reportage, meine war natürlich besser.

Eitelkeit war auch Meienberg nicht fremd, aber er hat in der Tat Massstäbe gesetzt: Stilistische Innovationen, Recherche-Standards, das Benennen von Ross und Reiterin, eine gewisse (immer fundierte) Parteilichkeit, Intelligenz, solche Dinge eben. Und wenn es nur recht und billig ist, seiner zu gedenken, dann daher, weil er nicht nur Texte hinterlassen hat, die zu lesen heute noch ein Genuss ist, sondern weil er auch ein Journalismus-Ethos gelebt hat, das man heute schmerzlich vermisst. Allerdings bin ich nicht sicher, wie er mit der Tatsache umgehen könnte, dass man heutzutage alles schreiben kann und (fast) keine Sau zuhört. Das hätte ihm vielleicht genauso die Luft genommen.

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Cancel Culture

Die Debatte um Cancel Culture und die heraufbeschworene «moral panic» sind generell absurd bis lächerlich, vor allem auch, wenn es um die Hochschulen geht. Die Wissenschaftsfreiheit ist zwar in der Tat immer wieder in Gefahr, aber nicht durch ein paar Leute, die Vorträge verhindern. Wer das behauptet, lenkt von den realen Einschränkungen der Wissenschaft ab. Ich habe über ein Vierteljahrhundert in der anwendungsorientierten Forschung und Entwicklung gearbeitet. Das ist eine Phase innerhalb der Wertschöpfungskette des Wissens – doch, doch, so etwas gibt es –, die zwischen der Grundlagenforschung und der Markteinführung von Produkten und Dienstleistungen liegt. Ich habe ein interdisziplinäres Hochschulin­stitut mitgegründet und geleitet, war also letztlich für die Forschungsakquisition verantwortlich und kenne die Abläufe. Cancel Culture war nie meine Sorge.

Es ist die Machtfrage, die wie immer eine zentrale Rolle spielt. Wer ernsthaft behauptet, dass ein paar Antifa-Leute, die eine Vorlesung stören, die Macht hätten, den Wissenschaftsbetrieb lahmzulegen, verrät seine Ahnungslosigkeit. Wer diese Macht aber hat, sind die Finanzierungsstrukturen der Forschung, und es sind die Kommunikationsstrukturen und das dort herrschende Oligopol. «Wissenschaftsfreiheit» ist ein hehres Wort, aber wer seine wissenschaftliche Tätigkeit nicht finanzieren kann, kann einpacken. Mein grösster Druck als Institutsleiter kam von der Buchhaltung, schlaflose Nächte hatte ich nur, wenn eine wichtige Eingabe für ein Forschungsprojekt wieder einmal gescheitert war und eine Lücke im Budget drohte. Wer nicht grad optimal in das aktuelle Programm des Nationalfonds passt, wer das Pech hat, an einer Hochschule zu forschen, die unlängst mehrmals berücksichtigt wurde und daher nun wieder etwas zuwarten muss, oder wer unter einem Bundesrat leidet, der kein Forschungsabkommen mit der EU zustande bringt, kann am leeren Daumen saugen. Oder Leute entlassen. It’s the economy, stupid.

Der andere grosse Machtkomplex, der die Wissenschaftsfreiheit im Würgegriff hat, sind die Institutionen beim Umgang mit Daten, Informationen und Wissen. Nicht umsonst heisst es in der Wissenschaft: «publish or perish». Die einzige anerkannte Währung ist die Publikation, möglichst in einem angesehenen Medium. Der Weg dazu ist oft intransparent, immer extrem aufwändig – und der Anbietermarkt ist ein Oligopol. Weltweit gibt es, auch in Zeiten von Open Access, gerade mal 3 (richtig: drei) Grossverlage, die sich den Kuchen aufteilen. Die Preisgestaltung von wissenschaftlichen Journalen ist dadurch geprägt, dass alle Hochschulbibliotheken solche Publikationen führen müssen, dass alle Forscher:innen solches Wissen möglichst lückenlos verarbeiten müssen, dass also die Nachfrageseite kaufen muss und keine freie Wahl hat. Es ist wie beim Wohnen. Und wird ebenso schamlos ausgenutzt.

Es ginge noch weiter mit den Gefahren, zum Beispiel die Überforderung durch die schiere Informationsmenge, aber mir fehlt hier der Platz, um das auszuführen. Deshalb also: ja, die Wissenschaft ist in der Tat gefährdet, und die öffentliche Forschung ist nicht so frei, wie sie sein sollte. Aber das liegt nicht an einer irgendwie ausgearteten «Culture», sondern halt wieder einmal am guten alten Kapitalismus, der es auch in der Wissenschaft schafft, alles zur Ware verkommen zu lassen. «Kultur abschaffen», wie man «Cancel Culture» übersetzen könnte, ist da allerdings gar nicht mal so falsch.

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