Artikel, p.s. Zeitung

V wie «Visionen»

Der Vorwurf der Visionslosigkeit ist ein bisschen wie Hundescheisse an der Schuhsohle: unnötig, aber klebrig. Und da Sie ja demnächst die Wahl haben, muss ich eingreifen. Daher fünf Punkte dazu:

 

1. Zürich hat nicht zu wenig, sondern übergenug Visionen, und sie sind praktischerweise alle in der Gemeindeordnung aufgeführt. Manche davon sind sogar noch leise utopisch, aber es ist das Verdienst von Linksgrün, der Utopie einen Topos gegeben zu haben, der Zürich heisst. So etwa bei der 2000-Watt-Stadt (oder kennen Sie etwa eine?), beim Versuch, eine gesunde Durchmischung durch eine sozialverträgliche Wohnbaupolitik zu erhalten, oder bei der kühnen Vision einer dichten und dennoch grünen Stadt, was nur dann ein Widerspruch ist, wenn man keine Ahnung hat. Und wissen Sie, was das Beste an diesen Visionen ist? Sie werden alle von der Bevölkerung getragen, sind also sogar richtige visionäre Projekte.

 

2. Und warum sind sie dann noch nicht umgesetzt? Nun ja, Zürich ist keine Insel. Das Umfeld – Kanton, Bund, Füdlibürgertum – bremst, wo es kann. Egal, ob ein harmloser Cannabisversuch, ob Lohngerechtigkeit, Spurreduktion, Veloschnellweg, Lärmschutz oder ein bisschen weniger Feinstaub – die Bourgeoisie klemmt alle visionären Ideen ab. Ok, nicht alle. Bei Fairness gegenüber Menschen auf der Flucht klemmt Mario Fehr. Umso mehr gilt: Die Bürgerlichen stören sich nicht an unserer Visionslosigkeit, sondern an unseren Visionen.

 

3. Kurz und klar: Nicht jede Furzidee ist eine Vision. Die Digitalisierung etwa ist keine, sondern eine Technologie, vulgo Werkzeug. Technokraten verwechseln das leicht. Wer die Elektrisierung von Zürich als Vision einstuft, kann im Stadtrat grad so gut durch einen Roboter ersetzt werden. Und bei Seilbähnliwahn, Autotunnelhorror oder Elektroautogottesdienst gilt Helmut Schmidt: Wer solche Visionen hat, muss subito zum Arzt. Wikipedia meint dazu: −> Halluzination.

 

4. Verkürzt, aber nicht falsch ausgedrückt: Linke sind visionär, Rechte reaktionär. Die Utopie, die grosse Schwester visionären Denkens, hat traditionell eine tendenziell linke Vergangenheit, denn sie stellt sich gegen das Elend und den Tod. Zugegeben, nicht immer erfolgreich. Aber die Vorgeschichte ist lang und reicht bis zu durchaus konservativen Vertretern wie etwa Thomas Morus zurück («Utopia»). Nur war auch Morus zu seiner Zeit ein widerständiger Geist, was ihn übrigens den Kopf kostete. Wir lernen: Utopie ist Risiko. Und das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass hierzulande seit 1848 von rechts nichts Visionäres mehr kommt, ausser man rechne die eigenartige Sitte dazu, aus einem Sack Kartoffeln einen Bundesrat zu machen. Wahrlich visionäre Ideen aber, wie die AHV, Stimmrechtsalter Null, das Grundeinkommen, die Abschaffung der Armee, die Verstaatlichung des Bodens, Züri autofrei oder die Gründung der Grünen Partei kommen von Herzen, also von links.

 

5. Ok, ich hab gelogen. Es gibt eine rechte Sonderform der Vision: die Horrorvision. Zum Beispiel den libertären Nachtwäch-terstaat, die entfesselte Marktwirtschaft, die totale digitalisierte Überwachung oder die bürgerliche Wende in Zürich. Was uns nahtlos zur Einsicht führt, dass nicht die Vision an sich, sondern die herrschaftsfreie und demokratische Debatte darüber zählt, damit am Ende der Vision auch wirklich das Paradies und nicht der Albtraum steht.

 

So. Und jetzt marsch an die Urne! Sie haben noch 9 Tage Zeit, um Ihre Züri-Visionen in die Realität zu übertragen. Das gilt selbstverständlich auch für Ärzte. Venceremos!

 

Markus Kunz

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