Eine befreundete Tessiner Hotelière erwähnte letzthin, eigentlich habe sie im Moment nur zwei Probleme: Personalmangel und Wassermangel. Das Tessin trocknet gerade aus, und auch wenn es ein bisschen regnet, wird es nicht grundsätzlich besser. Denn der Wassermangel so ziemlich überall im, haha, «Wasserschloss Europas», nach lächerlich wenigen Wochen ohne Regen, ist systemisch. Und bei Wasser hört der Spass auf.
Im Moment schreit alles auf beim Gedanken, sich einen Pullover mehr anzuziehen, weil wir jetzt solidarisch und tapfer auf russisches Gas verzichten sollten. Grosser Mist! Was die Grünen immer nur abgehoben herbeigeschwatzt haben, nämlich, dass man nicht beides haben kann, Verschwendung und Ethik, wird plötzlich greifbare Realität. Wir müssen uns zwischen Solidarität und kuscheligen 25 Grad entscheiden! Dabei geht es nur um etwas weniger Komfort. Beim Wasser geht es um die Existenz. Aber lesen wir Schlagzeilen in der Zeitung? Im Gegenteil, wir spülen unsere Scheisse mit Trinkwasser weg.
Was genau uns eigentlich existenziell bedroht, ist überhaupt nicht klar. Rationale Antworten gibt es zwar viele, aber keinen Konsens. Das EDA spricht beim Stichwort Bedrohungslage nur von «diffusen Risiken». Der Sicherheitspolitische Bericht 2021 des Bundesrates wird zwar präziser, listet aber beliebige Gefahren auf und liefert keine konkreten Szenarien. Die Folge dieser Unsicherheit ist hingegen klar: Die Stahlhelmfraktionen kriechen aus ihren Schützengräben und träumen von Aufrüstung (unbedingt Patrouille Suisse erhalten!). Dabei wäre es gar nicht so schwierig festzulegen, was unser Leben akut, massiv und vor allem: garantiert bedroht. Spoiler: Russische Panzer sind es eher nicht. Man muss ganz woanders suchen.
Den Wassermangel hab ich schon erwähnt. Ebenso schlimm ist das Insektensterben. Nicht nur, weil in der Folge davon die Vögel hopsgehen, sondern auch, weil die Insekten, wer es denn unbedingt neoliberal monetarisiert braucht, enorme, unverzichtbare und unersetzliche Naturdienstleistungen erbringen. Menschen auf Bäumen, die mit Pinseln Blüten bestäuben, sind nicht die Lösung. Unsere Pestizidlandwirtschaft schon gar nicht. 40 Prozent aller Insekten sind bei uns bedroht oder bereits ausgestorben. Unwiderruflich. Das bedroht uns am anderen Ende der Nahrungskette direkt und existenziell.
Womit wir nahtlos bei einer weiteren Bedrohung sind: Tipping Points. Kippmomente. Gibt es in jedem System, auch im System Erde. Mit dem Klimawandel, falls wir nicht zackig Gegensteuer geben, immer mehr. Sie führen alle zu irreversiblen Katastrophen. Um nur ein paar Schlagzeilen der letzten Wochen zu nennen: Aussterben ganz vieler Fischarten wegen zu warmen Meeren, Emission von Riesenmengen Methangas wegen auftauendem Permafrost, Abschmelzen der Antarktis wegen massiv zu hoher Temperaturen. All das verstärkt die Ursachen, die Gleichgewichte kippen: Wirkungen sind die neuen Ursachen.
Die Liste wäre noch lang, aber mir fehlt hier der Platz. Ich müsste noch über die Massentierhaltung reden, die grösste Bedrohung der globalen Ernährung. Über den laufenden Demokratieabbau in diversen westlichen Staaten. Über die zunehmende Ungleichheit, der grössten Bedrohung des sozialen Friedens. Über die Abhängigkeiten in den medizinischen Lieferketten, die uns während der Pandemie bedrohlich aufgefallen sind… – aber ich sehe, Sie haben schon genug. Zur Erholung einfach die Webseiten des EDA oder des VBS aufsuchen. Alles wird gut.
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