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Ich, Median

Manchmal wäre es klüger, man würde auf mich hören. Tun die wenigsten und das auch nur selten. Und dann kommt es halt, dass meine Ideen von Organisationen mit einem Gschmäckle aufgegriffen werden, und dann haben wir den Salat. Kürzlich traf mich im Tram fast der Schlag, als ich in der NZZ las, dass Avenir Suisse für das Stimmrechtsalter Null ist. Und für das AusländerInnen-Stimmrecht!

Bis anhin war es ja so, dass ausser dem Mättu und mir keine Sau für Stimmrechtsalter Null war. Allerseits nur Gejohle, wenn ich darüber reden wollte. Und obschon ich den Newsletter dieses komischen Thinktänks abonniert habe, (der übrigens gar nicht so viel vordenkt, sondern eher die Speerspitze der Ideologie ist, gottseidank der richtigen!), muss mir dieser Sinneswandel entgangen sein. Er kommt allerdings auch nur wegen der Demografie zustande, sprich Überalterung. Und wegen der Panik, die Alten übernähmen das Szepter. Denn das Median-Alter in der Schweiz liegt bei 56, das heisst, eine Hälfte der Bevölkerung ist drüber, die andere drunter. Ich liege genau auf dem Median und finde die Argumentation trotzdem bireweich.

Offensichtlich ist Stimmrechtsalter Null eine der Ideen, die für mich das Normalste auf der Welt sind, aber bei anderen nicht. «One man, one vote» ist für mich nicht verhandelbar. Schlicht. Nicht. Verhandelbar. (Auch für Avenir Suisse nicht, notabene.) Und nachdem bis 1971 «man» mit «Mann» übersetzt wurde (wobei die Übersetzer ausschliesslich männlich waren), wird seither «man» mit «Erwachsener» übersetzt, und die ÜbersetzerInnen, Sie ahnen es, sind erwachsen. Beides fälscher geht’s nicht. «Man» heisst Mensch, und kein Mensch ist weder illegal noch stimmlos, und vor allem hat niemand das Recht, eine Grenze im Sinne eines Zensus zu setzen. Das ist Rückfall in tiefstes Mittelalter. All dieser Quatsch mit 15, 16 oder 18! Zu meinen Zeiten waren es noch 20 und noch früher 21. Alleine das beweist ja schon, dass Altersgrenzen reine Willkür sind und nur etwas über die Grenzsetzer aussagen. Wer so denkt, kann geradesogut wieder das Zensuswahlrecht einführen, welches das Stimmrecht ans Einkommen knüpfte. Oder an blonde Haare und blaue Augen… oh, Moment: Supi! Bin dabei.

Jacqueline Fehr mit ihrem Gewichtungsvorschlag bewegt sich auf ebenso dünnem Eis. Warum ausgerechnet eine doppelte Stimme für Junge oder Faktor 1,5 für nicht mehr so ganz Junge? Warum nicht 1,357 für 35,7-altrige? Wo bitte ist die Logik, wo die Stringenz? Wer bestimmt, wo das Jungsein aufhört, wer die Faktorgrösse? Etwa gar eine Abstimmung? Es bleibt Willkür, und Willkür verträgt sich nicht mit Demokratie. «One man, one vote» heisst, dass alle Menschen vor dem Tod und dem Recht gleich sind. Wer das bestreitet, hätte nicht bis hierher lesen müssen.

Und wie bitte? Kinder könnten noch nicht abstimmen? So ein Quark. Sie können auch noch kein Geld ausgeben oder verdienen und trotzdem schon Vermögen haben, das dann halt ihre Eltern verwalten. Genau das würden sie auch mit den Stimmen ihrer Kinder tun, und ein Schelm, wer denkt, das könnten die nicht. Da mangelt es offenbar an Verständnis, was Elternschaft (aber auch Beistandschaft) bedeutet, nämlich die Übernahme von Verantwortung.

Natürlich ahne ich, wo der Klemmer ist. Stimmrechtsalter Null ist kein Schachern, sondern Klarheit. Kein Basar, sondern so absolut, wie die Menschenwürde es eben auch ist. Unteilbar. Unveräusserlich. Die kompromisslose Konsequenz in der Umsetzung von Gleichberechtigung und Fairness. Und es ist wie mit dem AusländerInnenstimmrecht (notabene eine weitere naheliegende Idee): Wer hier lebt, soll auch hier mitbestimmen dürfen – egal welchen Alters.

Aber henu. Es hört ja niemand auf Mättu und mich. Hat nun halt Avenir Suisse die Nase vorn, wenn auch aus falschem Grund. Gönn’ ich diesen Dichtern und Denkern. Müssen auch mal was Schlaues abkupfern.

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Wenn Frau will

Beim Thema Kinder war mir von allem Anfang an klar, dass dies bei mir keine Feierabend-Wochenende-Sache werden soll, sondern dass ich gleichberechtigt und gleichverpflichtet dabei sein wollte. Unsere Arbeitsteilung zuhause erwies sich dann allerdings nicht, wie wir romantischerweise angenommen hatten, als fifty-fifty, da ich wesentlich mehr verdiente als die Mutter meiner Kinder, wir uns also die Gleichberechtigung gar nicht leisten konnten. Den Hort übrigens auch nicht. Später zog ich die Kinder alleine auf. Ich erwähne das nur von wegen street credibility, weil ich muss nach 25 Jahren Frauenstreiktag mal was Heikles loswerden.

Nämlich. Vergessen Sie den Quatsch mit den Fortschritten in der Gleichberechtigung, wie er in den letzten Tagen, wohl aus falsch verstandener Höflichkeit, allerorts geäussert wurde. Die richtige Befindlichkeit zum Geschlechterthema ist die meine: erschüttert und ernüchtert. Ich erkenne keinen Fortschritt. Nicht dass ich davon ausgehe, dass es den in der Zivilisation immer geben müsse, sonst gäbe es ja nicht diese 40 Prozent in den USA, die an den Storch, an Trump oder an die Erde als Scheibe glauben. Aber warum ist es bei der Gleichstellung bei uns, knapp zusammengefasst, in der letzten Generation sozusagen Null vorwärts gegangen?

Beweis. Noch immer jammern wir über einen zu kleinen Frauenanteil in den Berufen. Noch immer sprechen wir in diesem Zusammenhang von einem ‹Potenzial›. Noch immer gibt es Lohndiskriminierung. Noch immer heisst Carearbeit Frauenarbeit, selbstverständlich unbezahlt. Noch immer nehmen in der Regel Frauen bei der Heirat den Namen der Männer an. Noch immer reduzieren nur die Frauen ihr Arbeitspensum, wenn Kinder kommen. Noch immer kümmern sich bei einer Trennung die Frauen um die Kinder. Noch immer gibt es einen Frauenmangel in den Kadern. Noch immer gilt der Allein-Ernährer-Mythos. Noch immer gibt es nur einen mickrigen Vaterschaftsurlaub. Noch immer haben Frauen weniger Geld im Alter. Noch immer… Soll ich weitermachen?

Beispiel. Ich arbeite seit achtzehn Jahren an einer technischen Hochschule. Wir haben das Klassenprinzip, in der Regel zwischen 25-35 Leute. In der Regel davon 1 (in Worten: eine) Frau. Manchmal zwei, aber dann schluchzen wir vor Begeisterung. Seit achtzehn Jahren höre ich, dass das zu wenig seien, dass man etwas machen müsse («Potenzial!»). Ich habe gefühlte 1000 Studien gelesen, was zu tun wäre, wie das geht, warum es nicht geht, was man schon alles versucht hat, und so weiter – nix passiert. Die Quoten stagnieren. Und das ist nur eine Anekdote unter vielen.

Allerdings. Nicht, dass Sie jetzt denken, ich wundere mich. Denn ich weiss schon, warum das so ist. Menschen verändern sich nicht, bloss weil man sie darum bittet, ein bisschen nudget oder ein bisschen aufklärt. Und es nützt auch nichts, wenn Sie mich empört auf das tolle Gegenbeispiel aus Ihrem Bekanntenkreis verweisen. Es ist bloss die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Noch niemand hat demgegenüber versucht herauszufinden, was herauskäme, wenn man die Regel, sprich den finanziellen Anreiz, verändern würde. Zum Beispiel: Bezahl einen saftigen Haushaltslohn und sieh zu, wie die Manager an die Waschmaschinen gumpen.

Natürlich. Wer soll das bezahlen? Sie ahnen es: Wir haben soeben eine gute Gelegenheit für einen ersten kleinen Schritt verpasst. Mit diesem bedingungslosen Dings da. Ich weiss: Sie waren auch dagegen. Mir egal. Aber jammern Sie mir bitte nun nicht nochmals 25 Jahre lang die Ohren voll, die Frauen seien nicht gleichberechtigt und die Männer täten nicht Platz machen. Es ist keine Frage des Rechts. Bezahlen wir die Plätze entsprechend! Setzen wir die Anreize richtig.

Wir sollten endlich erwachsen werden, kollektiv meine ich, und vor allem: ökonomisch. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Behauptete ein Mann.

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Schöner wachsen

Neulich an der Uni, Podium zur Wachstumsgesellschaft. Mehr Leute da als an einer Flugshow, und das ja auch zu recht. Es duellierten sich: der übliche uninspirierte Quotenökonom von der Economiesuisse, Ressourcenökonom Lucas Bretschger von der Uni, Postwachstumsforscherin Irmi Seidl vom WSL und ein Unternehmensberater. Dazwischen der kantige SRF-Broz (ja, der!) mit einer zwar etwas undurchschaubaren Verhandlungsführung, aber das verzeiht man ihm, wenn man ihm schon mal dabei zugesehen hat, wie er den Mörgeli wie ein Ikea-Schuhschränkli zerlegt und aus halb so vielen Teilen wieder zusammensetzt.

Sein zu Beginn geäusserter Wunsch nach einer ideologiefreien Debatte war allerdings etwas eigenartig. Was hat denn das Thema (Null)Wachstum mit Ideologie zu tun? Und umgekehrt: Kann eine Debatte über Wachstum ideologiefrei sein, und weshalb sollte sie? Während Seidl immerhin anmerkte, dass Wissenschaft nie wertfrei sein kann, meint die Economiesuisse ja nach wie vor, dass immer nur die anderen ideologisch seien. Aber das wäre eine weitere Kolumne wert. Danach wechselte man zügig zur Frage, wie unsere Wirtschaft ohne Wachstum funktionieren könnte. Laut Economiesuisse gar nicht, und der süffisante Hinweis, dass verschiedene Solidarwerke bei uns auf Wirtschaftswachstum angewiesen sind, war natürlich ein Abstaubergoal und leider eine Realität, die wir dringend ändern sollten. Wenn nur wer wüsste, wie.

Wirtschaftswachstum hat mit Energieverbrauch zu tun. Beide Grössen sind bei uns, wie das Bundesamt für Energie jedes Jahr sauber ausweist, zu hundert Prozent gekoppelt, auch wenn verschiedene Kreise immer wieder das Gegenteil behaupten. Daher sind anständige Grüne ja auch wachstumskritisch. Zurück zum menschlichen Energiesklaven und zur Pferdestärke ist allerdings keine Lösung. Eine Entkoppelung täte dringend Not, und dazu müssen neue Geschäftsmodelle entwickelt werden. Das wäre denn auch das spannendste Thema dieses Podiums gewesen, aber leider zeigten die Teilnehmenden nicht eben viel Phantasie dabei. Wie man etwa die Menschen in Nigeria oder Venezuela in die Lage bringt, Geld damit zu verdienen, dass sie Erdöl eben gerade nicht fördern, sondern im Boden lassen – das wäre ein nachhaltiger Business Case! Ob das illusorisch erscheint, ist mir, offen gesagt, piepegal. Es ist genauso illusorisch, im übersättigten Orangensaft- oder Waschpulvermarkt noch einen neuen Orangensaft oder ein neues Waschpulver platzieren zu wollen, und trotzdem wird es gemacht. Es ist nicht einzusehen, warum man mit nachhaltigen Geschäftsmodellen nicht auch Geld verdienen kann. Wertschöpfung durch Dienstleistung statt durch Ressourcenverbrauch, reparieren statt wegwerfen, teilen statt kaufen, solche Ansätze weisen den Weg. Wie weit sich alternative Geschäftsmodelle im Raubtierkapitalismus allerdings durchsetzen können, ist die Frage.

Ansonsten wähnte man sich, wie bei diesem Thema leider üblich, an einer Junkie-Debatte. Vor allem die Economiesuisse sollte ihren Drogengebrauch dringend überprüfen. Amartya Sen, der indische Nobelpreisträger, hat einmal gesagt, dass es weniger auf den Verzicht ankomme, als vielmehr auf die Fähigkeit zum Verzicht. Es geht also bei der Wachstumsdebatte um eine dringliche Ausweitung des Handlungsspielraums. Denn wer zum Wachstum verdammt ist, zeigt so viel IQ wie ein Tumor, und wo der endet, wissen wir ja. Vorerst gilt es, unsere Erpressbarkeit zu verringern. Systeme und Organisationen, die auf Wachstum angewiesen sind, sind zu überprüfen. Dabei kann auf Bewährtes zurückgegriffen werden: Allmenden, Genossenschaftsmodelle, Mitbestimmung, Volksaktien und, etwas frischer, das bedingungslose Grundeinkommen. Alles übrigens gut schweizerisch. Und ein Letztes: Gell, Sie haben auch nicht gemerkt, dass unsere Wirtschaft, wenn man pro Kopf rechnet, seit Jahren kaum mehr wächst. Sagt übrigens die Economiesuisse. Wovor haben die eigentlich Angst?

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Jahrhundertpfusch

Heute muss ich Sie leider ein bisschen langweilen. Denn es gibt Themen, die gehen uns gleichermassen etwas an wie sie uns überfordern, und ich rede jetzt nicht von der Präimplantationsdiagnostik, sondern vom ganz banalen Strom aus Ihrer Steckdose. Jede Debatte über Energie oder Energiewirtschaft wird ziemlich schnell ziemlich technokratisch. Die Mechanismen eines europäischen Strommarkts zum Beispiel sind derart komplex, dass eigentlich kaum noch jemand versteht, was abgeht. Natürlich kann man einfach fröhlichen Mist verzapfen, es merkt’s ja eh keiner, manchmal kann man in guten Treuen unterschiedlicher Ansicht sein, und öfters wird die Debatte schlicht für politische Manöver instrumentalisiert, wie das letzthin etwa der Ex-Alpiq-Chef Schweickardt in der Presse vorgeführt hat, ganz nach dem unglaublich originellen Motto ‹Schuld sind die Erneuerbaren›.

Warum zum Beispiel der Marktpreis für Strom europaweit im Keller ist und dort auch noch ein ganzes Weilchen bleiben wird – Alpiq und Axpo sprechen von 2 Rappen pro Kilowattstunde –, ist unterschiedlich erklärbar. Zunächst allerdings ganz simpel: Es gibt ein Überangebot an Strom, vor allem weil der Markt verzerrt wird. Wenn es irgendein Beispiel dafür braucht, dass der freie Markt nur theoretisch (und natürlich auch in Nimmerland) funktioniert, dann ist es der Strommarkt. Sämtliche Staaten in Europa greifen ihren zunehmend unrentabel arbeitenden Stromerzeugern unterstützend unter die Arme, denn Strom ist eben doch nicht einfach nur irgendein Gut, sondern existenziell für die Volkswirtschaften.

Atomstrom, Gas, Kohle, Sonne oder Wind – was auch immer Sie in ihren vier Wänden verbraten, es ist subventioniert, gefördert, steuerentlastet, usw. Und neuerdings hat ja das stinkbürgerliche Parlament in Bern den Willen bekundet, Schweizer Wasserstrom zu subventionieren. Halleluja. Das nenn’ ich die Krankheit zu fördern, indem man sie bekämpft. Kaum ein Kraftwerk kann unter diesen Umständen noch rentabel betrieben werden, fast überall sind die Gestehungskosten höher als die Marktpreise. Die CEO von Alpiq, Jasmin Staiblin, will daher ihre Wasserkraftwerke samt Stauseen an den Meistbietenden verhökern, denn der Markt ist frei und die Not bei Alpiq gross. Aber auch alle AKW stehen im Regen, denn sie produzieren mit über 5 Rappen Kosten und verlieren Tag für Tag Geld. Und sind zunehmend materialmüde. Und verursachen Abbruchkosten in unbekannter Höhe. Und müssen 100 000 Jahre lang endgelagert werden. Frau Staiblin graust’s davor, die BKW haben in Mühleberg die Reissleine gezogen, und die morschen Werke in Beznau werden, so meine bescheidene Wahrsagung, nicht mehr lange leben. Falls bei den Betreibern noch ein Funken Verstand vorhanden ist.

Die AKW-Wirtschaft ist derart gründlich verkachelt, dass auch die Ungebildeten unter ihren Verherrlichern schon lange kalte Füsse haben. Während in Tschernobyl immer noch Menschen an den Spätfolgen der Atomexplosion vor 30 Jahren sterben, während in Fukushima fast täglich neue Überraschungen auftauchen, kämpfen unsere AKW-Betreiber ums Überleben. Der Ausgang ist absehbar: Sie werden verlieren, und wir alle werden das Begräbnis bezahlen. Was nicht zuletzt auch ein Grund ist, warum wir kleine KonsumentInnen nicht von den tiefen Preisen profitieren, denn so ein Begräbnis ist sauteuer. Die Bürgerlichen versuchen, das Debakel den Erneuerbaren in die Schuhe zu schieben und gleichzeitig die Energiewende nochmals und in Richtung Steinzeit zu wenden. Und in der ganzen Aufregung geht der Klimaaspekt der Energiedebatte schneller unter, als das Pariser Abkommen ratifiziert werden kann.

Daher: Gnueg Heu dune! Steigen wir aus dem AKW-Mist aus! Erster Matchball am 5. Juni in Zürich, zweiter Matchball im Herbst mit der Grünen AKW-Ausstiegsinitiative. Lieber ein Ende mit Kosten, als Kosten ohne Ende!

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Der! Die! Das!

 

Ich muss mich an dieser Stelle kurz outen: Ich bin kein grosser Händeschüttler. Ich sehe den Sinn nicht so ganz. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass das Händeschütteln im Mittelalter erfunden worden ist, weil man mit dem Hinstrecken des schönen Händchens, vulgo Schwerthand, beweist, dass man keine Waffe versteckt. Was für mich als Linkshänder natürlich doppelt sinnlos ist, ausser dass es mir einen gewaltigen darwinistischen Vorteil verschafft: Rechts grüssen, links abstechen.

Im ganzen Shakehandsgate tun mir einzig die Jugendlichen ein bisschen Leid, die wohl mehrfach instrumentalisiert wurden. Von alleine sind die Jungs ja kaum auf die Idee gekommen, ihre Aktion an die Medien zu verraten. Wenn ich der Lehrer gewesen wäre, hätte mir die Situation weder pädagogisch noch didaktisch Bauchweh bereitet. Ich hätte den Vorfall für eine Geschichts- und Kulturlektion genutzt, in der ich mit den Jugendlichen die verschiedenen Formen der Begrüssung in verschiedenen Kulturen zu verschiedenen Zeiten besprochen und die Frage gestreift hätte, warum das alles wenig mit Religion zu tun hat und wie wir gemeinsam mit Begrüssung etc. umgehen wollen. Und das alles ohne Medien und ohne Geschrei. Das ist nämlich immer noch der Alltag in unseren Schulstuben.

Der eigentliche Skandal ist, dass aus einer solchen Geschichte überhaupt einer wird. Wie sehr wir zulassen oder uns daran gewöhnt haben, dass (religiöser) Dogmatismus unser Alltagsleben bestimmt. Und wie sehr diese Dogmen nicht mehr vereinbar sind mit unserem Alltagsleben. Denn vieles, was nach Religion aussieht, ist in Wahrheit Politik. Aber wir werden davon auf dem falschen Fuss erwischt, denn Religion ist, nicht nur bei den Linken, kein Kerngeschäft von uns. Wir sind masslos überfordert, wenn die Religion politisch wird.

Die Dogmen der Weltreligionen sind ja nicht neu, sondern Jahrhunderte alt, neu ist nur, das sie politisch instrumentalisiert werden. Im Schaufenster eines Lokals einer Bibelgruppe in meinem Quartier hängt seit Jahren in riesigen Lettern der Vers aus Joh. 14.6: «Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater als nur durch mich.» Wohl verstanden: Nicht etwa weichsinnig «EIN möglicher Weg» oder «EIN Teil der Wahrheit», oh nein: DER! DIE! DAS! Aber was seit Jahrhunderten so geschrieben steht, kann unter heutigen Bedingungen nur noch als Hasspredigt verstanden werden. Jesus würde sich im Grab umdrehen, wenn er denn noch drin liegen würde. Und natürlich enthält auch das Glaubensbekenntnis des Islam einen entsprechenden Arierausweis, was denkst du denn. Absolutheit ist Machtanspruch, Machtanspruch ist Kriegsgeschrei. In der heutigen aufgeheizten Stimmung seinen Söhnen den Tipp zu geben, doch einfach einmal der Frau Lehrerin den Handschlag zu verweigern, ist daher eine prima Idee – wenn man lebensmüde oder Fanatiker ist. Aber wie gesagt: Es hängen alle gleichermassen drin. Die These, wonach monotheistische Religionen systembedingt unfriedlich sind, wurde meines Wissens noch nicht wirklich widerlegt. Früher oder später (und offensichtlich immer wieder) sind Kreuzzüge eine logische Folge.

In unserer pseudosäkularen Gesellschaft aber verursacht dies nur noch hirnlose Debatten, schon seit Jahrzehnten. Egal, ob wir übers Jesuitenverbot, übers Schächten, übers Kopftuch oder über Minarette reden, es ging nie wirklich um einen religiösen Gehalt, sondern um Macht. Ich denke daher ebenfalls nicht, dass eine Seele zu Schaden kommt, wenn sie mal einer Frau die Hand schütteln muss, aber auch nicht, wenn sie in einer katholischen Kirche ein Kopftuch überziehen muss. Rituale sind nur eine gesellschaftliche Konvention, keine göttlichen Gebote. Aber mir ist natürlich schon bewusst, dass ich für diese Aussage gesteinigt werden würde, wenn’s denn diese Sitte bei uns noch gäbe. Hand drauf.

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Z’Örlike gits alles

Es gibt Regeln, zum Beispiel: «A tote Sau sollst net prügeln.» Und es gibt Ausnahmen, zum Beispiel: Emil G. Bührle.

Was da letzthin im Zürcher Gemeinderat abgegangen ist, und zwar von allen Seiten, lässt mich komplett ratlos zurück. Anlass war ein Vorstoss der Grünen, der ein Denkmal vor dem künftigen Erweiterungsbau des Kunsthauses forderte. Ein Mahnmal, welches die BesucherInnen der Bilder aus dem Nachlass Bührles daran erinnern soll, woher die Gelder stammen, welche diese ach so tolle Kunst ermöglichen: nämlich aus dem Waffengeschäft, teilweise unter Einsatz von KZ-ArbeiterInnen. Der Vorschlag umfasste die konkrete Idee, eine Flabkanone, ein so genanntes Oerlikon-Geschütz, zu verwenden.

Ich kann mich eigenartigerweise noch sehr klar erinnern: Als Jugendlicher las ich eifrig allerlei über den Zweiten Weltkrieg, auch Dokumentarisches. Immer wieder stiess ich dabei auf Oerlikon-Geschütze, auf Schiffen oder zu Land, und es kam mir schon damals komisch vor, dass die genau gleich hiessen wie ein Quartier in Zürich. Erst Jahre später erfuhr ich, dass dies kein Zufall war. Die Tatsache, dass alle Kriegsparteien solche Geschütze eingesetzt haben, dürfte so viel zum guten Ruf der Stadt beigetragen haben wie die Gnomen von der Bahnhofstrasse, die so ungefähr in jedem zweiten Krimi auf der Welt erwähnt werden.

Die Wellen im Ratssaal schlugen hoch, und die Postulantin wie der Postulant wurden kräftig abgewatscht und beschimpft. Sogar die Stadtpräsidentin lehnte sich weit zum Fenster hinaus und verurteilte den Vorstoss mit Worten, die ich mir hier nicht getraue wiederzugeben. Auch bei uns Grünen war die Sache kontrovers. Ob das nicht Täterverherrlichung sei, wurde moniert. Wo die Opfer bleiben, wurde gefragt. Aber halten wir fest: Wer künftig in den Erweiterungsbau des Kunsthauses geht, wird sich kaum die Frage stellen, woher denn die Stadt Zürich diese Bilder hat. Es sind nicht nur die Jungen, deren historisches Gedächtnis nachlässt. Dass auch der FDP-Fraktionschef einmal mehr den Mythos von der schicksalhaft glücklichen Unversehrtheit der Schweiz in den Weltkriegen vortrug, ist zum in den Tisch Beissen. Die historische Debatte ist definitiv weiter. Sogar ich, der ich beinahe sein Vater sein könnte, weiss mehr darüber. Aber genauso wird es auch mit den KunstliebhaberInnen sein. Sie werden ins Museum gehen, sie werden staunen und denken: Toll, hat diese Stadt diese Bilder. Woher, werden sie nicht wissen und wohl auch nicht wissen wollen. Und das, meine Lieben, das ist dann wirklich die definitive Verhöhnung der Opfer. Es ist das Vergessen, das ein Opfer definitiv sterben lässt, nicht das Denk-Mal zur Erinnerung und Mahnung.

Provenienzforschung schön und gut: Wer den Krieg als Markt benutzt und die Gewinne mit Kunstwerken weisswäscht, ist ethisch komplett in der Defensive. Da kann man noch so sehr in den Gegenangriff und darauf verweisen, dass unsere Generation nicht auf dem hohen Ross sitzen solle. Ich bin mir nur zu bewusst, dass meine Kinder und Kindeskinder einmal (und sehr zurecht) fragen werden, was wir denn gegen die Balkankriege, nur wenige hundert Kilometer vor unserer Haustür, unternommen hätten, oder wie wir mit den Flüchtlingen der Syrienkrise – «weisch, damals, 2016» – umgegangen seien. Und nein, ich werde nicht stolz darauf verweisen, dass unsere Willkommenskultur aus ein paar Holzhütten in der Messehalle 9 bestanden habe, und auch nicht darauf, dass Gott die Schweiz vor den Flüchtlingen verschont und die Europäer dafür doppelt bestraft habe.

Jede Generation hat ihre Fragen zu ver- und beantworten. Aber man wird doch wohl noch nach einem Denkmal verlangen dürfen, wenn es denn für einisch einmal eines bräuchte. – Nun, das Postulat wurde abgelehnt, der Kopf darf im Sand stecken bleiben. Möge der böse Löwe der Geschichte uns dabei nicht in den Hintern beissen!

 

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Vom Volk zur Crowd

Gedanken aus einem Land, dessen nationaler Zusammenhalt momentan aus einer Tunnelröhre besteht.

Vor der Katastrophe soll man natürlich alles tun, um die Katastrophe zu verhindern. Und es war in der Tat schön zu sehen, dass die Wüste Schweiz noch lebt, dass die berühmt-berüchtigte Zivilgesellschaft tatsächlich existiert und sich endlich auch wieder einmal als politisches Wesen verstanden und sich gegen den Wahnsinn zur Wehr gesetzt hat. Und so haben wir denn die Katastrophe abgewendet. – Haben wir?

Haben wir natürlich nicht, wir haben sie lediglich etwas verlangsamt. Die Rechnung der SVP, auf so oder so angelegt, ist aufgegangen. Die Basar-Methode – fordere 5, erwarte 2, behalte 3 – war erfolgreich. Zwar mag es bei der SVP lange Gesichter gegeben haben, weil sie im Vorfeld einen Sieg erwarten durfte, aber das haben die schneller weggesteckt, als wir unsere Frauen und Töchter vor ihnen verstecken konnten. Das deutliche Nein vermag kaum zu kaschieren, dass das Unheil bereits vor der Abstimmung angerichtet war. Volksinitiativen müssen nicht angenommen werden, damit sie ihre Wirkung entfalten können. Nicht zuletzt wir Linken bauen ja immer wieder auf diesen Effekt, egal ob es sich um die Abschaffung der Armee oder um die Einführung eines Mindestlohns handelt. Zweitens: Auch das klare Nein schleckt nicht weg, dass 40 Prozent der Menschen in unserem Land nichts gegen Apartheid haben, 40 Prozent ist wurscht, wenn die Grundwerte unseres Staates ausser Kraft gesetzt werden. Denn nochmals: Das nun gültige Gesetz, eines der härtesten in Europa, atmet denselben Geist. Und wird von Leuten wie zum Beispiel Ständerat Jositsch nicht wirklich kräftig in Frage gestellt. Es bleibt daher die Frage: Woran merkt man, dass die rote Linie überschritten ist?

Wohl deshalb ging mir in den letzten Wochen immer wieder, bruchstückhaft, ein bekanntes Gedicht durch den Kopf. Ich meinte, es sei von Dietrich Bonhoeffer, dem in Plötzensee von den Nazis gehenkten Theologen, aber es stammt offenbar vom zwielichtigen Pastor Martin Niemöller. Item. Es geht ungefähr so: «Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie die Juden holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der hätte protestieren können.» Nun, sie haben die kiffenden Secondos also nicht geholt, die Sozialhilfeschwindler dagegen kommen an die Kasse. Das Argument, das Volk habe immer Recht, ist in den Händen der falschen Leute nicht schwächer geworden. Auch der Faschismus stützt sich darauf ab, wenn es ihm nützt. Eine Strategie dagegen habe ich in den vergangenen Wochen nicht gehört.

Immerhin: Erstmals wurde die SVP in ihrem Kerngeschäft geschlagen. Bisher war sie ja nur mit ihren drei ausländerfeindlichen Vorlagen (Minarette, MEI, Ausschaffung) erfolgreich, der Rest ihrer Initiativen und Referenden ist meist abgeschifft. Nun muss sie sich auch hier mehr Mühe geben. Ob ihre neue Gegnerin, diese unsichere Genossin namens Zivilgesellschaft, ihr dabei weiterhin in die Suppe speuzen wird, wage ich zu bezweifeln.

Es mag links und nett sein von Frau Sommaruga, wenn sie diesen Leuten am Abstimmungssonntag persönlich gedankt hat – aber wenn es um eine politische Haltung geht und um langen Schnauf, dann sind für mich die Parteien eben doch noch etwas verlässlicher. Oder möchten Sie in einem Land leben, in dem der Faschismus nur noch durch Crowdfunding aufgehalten wird?

Ich halte mich da eher an die sächsische NPD und ihren Slogan auf einem ihrer Wahlplakate: «Konsequent abschieben! – Unser Volk zuerst!» Aha. Gut gibt’s Tunnelröhren.

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Zwei Biere für Filippo

 

Immer wenn ich zum Bahnhof Wiedikon laufe, komme ich an einem Haus vorbei – man munkelt, in Besitz eines rechtsbürgerlichen Journalisten –, das sein Herz auf der Zunge bzw. an der Fassade trägt. Dort steht nämlich in trotzigen Lettern: «Die Bewohner dieses Hauses sind freie Bürger. Sie verbrauchen so viel Strom wie sie brauchen.» Falls Sie diese Definition von Freiheit kind…äh, komisch finden, dann sind Sie auf dem Holzweg. Obschon die Sache verdächtig nach einem tapferen «Mein Auto fährt auch ohne Bäume!» tönt, gibt es wohl in ganz Zürich keine bessere Definition von Suffizienz. Quasi ein Fall von ungewollter Expertise.

So viel brauchen wie man braucht – genau das ist nämlich die Herausforderung. Genauer: Herauszufinden, wie viel man wirklich braucht! Zwischen brauchen und verbrauchen besteht bei uns bekanntlich ein gewaltiger Unterschied, denn die Menschen sind ja auch beim Brauchen nicht gleich, ganz zu schweigen vom Verbrauch ohne Nutzen. Etwa wenn Sie das Licht brennen lassen, wenn Sie nicht im Raum sind – keine Lappalien, sondern durchaus Handlungen mit Destruktivkraft, «wenn das jeder täte». Was er und sie ja auch tun. Weil sie frei sind. Konsequenzen hat das keine. Strom gibt’s im Überfluss. Die Tapferkeit ist gratis, aber zugleich der beste Beweis dafür, dass Suffizienz wenig mit Verzicht zu tun hat – solange man nur verbraucht, was man braucht.

Es gibt aber noch eine bessere Definition von Suffizienz, die hab ich vom sexiest economist alive, Tomáš Sedláček, der sie vor Jahren an einer Tagung in Winti präsentiert hat. Er hatte uns gefragt: Wissen Sie, was passiert, wenn man ÖkonomInnen die Aufgabe stellt, zwei Biere gleichmässig durch drei Leute zu teilen? – Es passiert immer dasselbe: Die bestellen sofort ein drittes Bier!

Wir haben es hier nämlich nicht nur mit einem grandiosen Versagen derjenigen Wissenschaft zu tun, die andauernd eine grosse Klappe hat, sie wüsste, wie man mit Knappheiten umgeht, und uns doch kein einziges umsetzbares Modell dazu liefert, sondern, viel schlimmer: Wenn Sie sich nun nicht Biere vorstellen, sondern die eine Welt, die wir nun mal haben, verstehen Sie, warum die Grünen eine derartige Konjunktur haben (Scherz!). Mit anderen Worten: Es geht um die Anerkennung von Grenzen, meinetwegen des Wachstums, auf jeden Fall von Ressourcen. Und vor allem geht es um Politik, denn wo das Wachstum aufhört, beginnt die Umverteilung. Und damit wird auch das Versagen der Ökonomie klar, denn dazu gibt es nur ein global anerkanntes Prinzip: das der Gerechtigkeit.

Aber ich seh schon: Sie lechzen nach Anwendung. Kommt sofort: Stadt Zürich. Verkehr. Rämistrasse. Ein schönes Beispiel für Suffizienz. Und so geht’s: Gegeben sei eine Strassenfläche zwischen Bellevue und Pfauen, links denkmalgeschützte Häuser, rechts eine riesige Mauer. Sodann jede Menge von Anspruchsgruppen: FussgängerInnen, Velos, Trämlis, Autos, Töffs. Die brauchen (sic!) alle Platz. Der ist nicht vorhanden. Es gibt also Grenzen. Was tun?

Platz umverteilen, Filippo! Und nach welchen Grundsätzen? Nach demokratischen, Stadtrat! Denn wir leisten uns ja den Luxus einer Demokratie, in der das Volk nicht nur eine klare Prioritätenordnung bei den Verkehrsträgern definiert, sondern diese sogar in ein Gesetz gegossen hat, in dem es heisst: «Die Stadt Zürich setzt konsequent auf den öV, Fuss- und Veloverkehr…»

So. Damit wird’s simpel: Suffizienz bedeutet den Rückbau von Autokapazitäten. Da gibt es keinen Spielraum. Eine Ausweitung der Systemgrenze ist nicht möglich, und die Umverteilungsspielregeln sind glasklar. Da braucht es keine ominöse ‹Gesamtschau›. Und kein Schnattern von der Falkenstrasse. Da muss jetzt einfach der Volksauftrag durchgesetzt (sic!) werden, nach Suffizienzregeln, die sich diese liebliche Stadt schliesslich selber verordnet hat.

Mannomann: Die Welt retten wär so einfach.

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Vespas, bewacht

 

The early bird catches the worm, daher hatten wir frühzeitig unsere Ferien gebucht. In Paris. Also gewissermassen eine Vorkriegs-Buchung. Nicht meine Worte, ich komme darauf zurück. Aber so kam es, dass ich das erste Mal in meinem Leben in einem Gebiet war, wo der Ausnahmezustand herrscht, und so waren diese Tage ein Lehrstück über den Satz von Carl Schmitt, wonach derjenige souverän ist, der über den Ausnahmezustand entscheidet. Und darüber natürlich, wann und wo er nicht so ernst zu nehmen ist.

Denn viel davon gemerkt hat man, touristisch, also oberflächlich gesehen, nicht. Es ist auch nicht möglich, eine Riesenstadt wie Paris vollständig sicher zu machen, und das Weihnachtsgeschäft wollte man sich ja auch nicht vermiesen lassen. Die lokalen Medien meldeten, dass es Zara kurz vor Jahresende gelungen sei, den Sonntagsverkauf und spätere Ladenschliesszeiten gegen den Widerstand der Gewerkschaften durchzudrücken. Na also, geht doch.

Zwar standen abends zwischen fünf und sechs drei Soldaten breitbeinig an einer Strassenkreuzung in unserem Quartier, womit sich das etwas seltsame Bild ergab, dass der Vespa-Händler und das Solarium tipptopp bewacht waren. Und vor den Museen stand man lange Schlange, weil man an den Eingängen zuerst durch Sicherheitsschleusen musste. Dennoch: Sicherheit sieht anders aus. Und nach der Happy Hour waren die Soldaten ja wieder weg. Auch die 11 000 Einsatzkräfte am Sylvester auf den Champs Elysées waren zwar eindrücklich, konnten aber nur schlecht übertünchen, dass das eher der Volksberuhigung diente. Feuerwerk war verboten, dafür liessen die TV-Sender die FestbesucherInnen Durchhalteparolen ins Mic sagen, und in den Ramschläden waren die Frankreichfähnchen heruntergesetzt. Nationale Selbstvergewisserung auf allen Kanälen.

Krieg also. Die Debatte über das Wording ist Jahrzehnte alt. Die westlichen Staaten haben sich bisher immer geweigert, nicht-staatliche gewalttätige Gruppierungen als Kriegsgegner anzuerkennen. Das war so bei der RAF im Deutschen Herbst, das war so im Italien der 80er oder in Algerien, wo Frankreich selbst erst spät den Kampf gegen die algerische Befreiungsbewegung als Kriegseinsatz zugab. Die Sprachregelung war jeweils, es mit kriminellen Banden zu tun zu haben, denn Krieg setzt erstens die Einhaltung gewisser Konventionen voraus, und zweitens agieren Kriminelle nicht auf Augenhöhe, Kriegsgegner aber schon. Erst Georg W. Bush hat das geändert, und wir dürfen gewiss sein, er wusste nicht, was er lostrat. Seither befinden sich diverse Nationen im Krieg gegen den Terror – und das einzige Verwunderliche daran ist, dass sie sich wundern, wenn der Krieg auch auf ihrem eigenen Territorium ausgetragen wird. Und: Die Gegner betrachten sich jetzt natürlich auch als im Krieg, und manche zivilisierte Staaten benehmen sich dafür wie kriminelle Banden.

Man muss denn auch nicht in die Pariser Vorstädte gehen, es genügt schon, etwas in den Norden, etwa nach Belleville zu fahren, wo der Anteil der muslimischen und schwarzen Bevölkerung wesentlich höher ist, und schon wusste man nicht mehr so ganz genau, ob die Soldatinnen und Soldaten eigentlich die Bevölkerung be- oder überwachten. Die Stimmung war – anders, komisch. Man wurde gefühlsmässig in der Einschätzung bestätigt, dass der Krieg in Frankreich auch hausgemacht ist. Der letzte identifizierte Attentäter des Bataclan ist Franzose.

Und bei uns? Gibt es in diesem Krieg eine Schweizer Neutralität? Ich denke nicht. Wer Waffen an Kriegsparteien liefert, nimmt Partei. Und wird zum Ziel. Das ist nur eine Frage der Zeit. Aber wenn es dann soweit sein wird, werden solche Sätze vermutlich gar nicht gut ankommen. Wir werden dann Fähnchen schwenken und Kerzen anzünden. Mais quand même: Bonn’année.

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Artikel, p.s. Zeitung

Vom Geben

 

Von weihnachtlicher Stimmung will ich euch nun erzählen, von milden Gaben, barmherzigen Gebern, vom Betteln und Hausieren, wie es in meiner Kindheit noch per Schild an der Haustür verboten gewesen war, worum sich aber zum Glück weder der Just-Vertreter noch die jenischen Scherenschleifer einen feuchten Christstollen gekümmert haben.

 

Nur: nichts ist mehr wie früher! Die Hausierer wurden vom Internet abgelöst, die Fahrenden sind sesshaft, und die BettlerInnen haben ihre Businesspläne angepasst. Normalerweise wird man am Bahnhofquai von einer dürren Gestalt angehauen, die auf magische Weise ahnt, ob du tagesformmässig bereit bist, einen Zweier rauszurücken. Oder dann kommt so ein Fredi Hinz-Typ, der immerhin eine gute Story auf Lager hat, dich also genau genommen gar nicht anbettelt, sondern dir eine soziokulturelle Leistung verkauft. Also mache auch ich gerne mal den Zuckerberg und spende 99 Prozent meines Hosensackinhalts. So wie neulich auf dem Winterthurer Bahnhofplatz.

 

Es war Morgens vor Neun, und die Dame vor mir entsprach so gar nicht dem üblichen Typus, sondern war ganz anständig angezogen und wohl frisiert und recht deutlich im Rentenalter. Sie fragte mich, ob ich ihr nicht 5 Schtutz geben könne «für einen Kaffee».

 

Und während ich noch darüber nachsann, ob das nun die neue Armut sei, welche bereits den Mittelstand erfasst hat, und ob ein Kaffee in der Pampa wirklich nun auch schon 5 Stutz kostet, lieferte sie mir ungefragt die Erklärung für ihr Ansinnen nach: «Wüssed Si, die Bank geht nämlich erst um 10 Uhr auf.»

 

Und während ich noch darüber nachsann, ob das nun originell sei oder im Gegenteil eher von der Sorte abtörnender Ausreden, die den sich anbahnenden Akt der Nächstenliebe gleich wieder abwürgen, kramte ich schon im Hosensack nach Münzen. Ich zog eine Hampfel heraus, spürte gleichzeitig in den Fingern, dass es nie und nimmer 5 Franken waren, mich daher auch nicht zu einem Bettler machen würden, und drückte ihr das Münz mit den Worten in die Hand: «Mehr hab ich leider nicht.» Und während ich noch darüber nachsann, ob mir nun in der himmlischen Buchhaltung 15 Minuten Fegefeuer abgezogen würden oder ob Gott mir ganz im Gegenteil mein stinkiges Pharisäertum um die Ohren hauen wird, sagte die Dame nicht etwa «Schönen Dank auch der Herr» oder sonst etwas Erwartbares, nein, sie sagte laut und tröstend: «Na, das ist doch schon mal ein Anfang.»

 

Und während ich noch darüber nachsann, ob man sich eigentlich mit offenem Mund eine Erkältung holen kann, war sie schon weg.

 

Auch nicht schlecht gestaunt habe ich ein paar Wochen später am Stadelhofen. Es war schon dunkel, und eine leicht gekrümmte, sehr alte Dame, Zigarette in der Hand, Handtäschlein am Arm und ordeli gekleidet, sprach mich von schräg unten an. Ob ich ihr nicht mit etwas Geld aushelfen könne, sie habe ihr Portemonnaie verloren. Ich erschrak: So sah sie nun also aus, die Altersarmut, gebrechlich, vom Pech verfolgt, ohne Wintermantel, hungrig und in jeder Hinsicht meiner Hilfe bedürftig. Und noch bevor ich über die verschiedenen Implikationen dieses selten blöden Reflexes nachsinnen konnte, oder darüber, wie die coole Zigi in der greisen Hand zu deuten sei, griff ich in die Tasche und fand dort nur ein Nötli. Ich drückte es ihr in die Hand und fand immerhin die Sprache wieder, indem ich ihr den väterlichen Rat gab, sie solle unbedingt ihre Karten, falls vorhanden, sperren lassen. Im Abgang, über die Schulter hinweg, raubte sie mir den letzten Rest an Contenance, indem sie mir seelenruhig mitteilte: «Hani scho lang gmacht.»

Soviel im Moment zum Thema hilfsbedürftig und zerbrechlich, betteln und Advent. Eine Moral gibt’s glaubs nicht. Aber einen guten Vorsatz: Ich nehme mir fest vor, im Alter auch mal so zu werden. Schöne Festtage!

 

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