Artikel, p.s. Zeitung

Stell dir vor, es ist Krieg

Es muss wohl im Gymi gewesen sein, wo mir Paul Celans Frage, ob man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben könne, erstmals begegnet ist. Und Brechts Gedicht an die Nachgeborenen mit der Frage, «Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist», was dasselbe meint. Ich verstand, was das bedeutet, aber ich begriff es nicht. Selbstverständlich nicht. Zwei Jahrzehnte später gab mir die Realität Nachhilfe. Krieg in Europa, nur einige hundert Kilometer von unserer Grenze entfernt, ist bereits im Jugoslawien der 1990er-Jahre brutale Wirklichkeit geworden. Das Entsetzen hier war gross, es gab dort erstmals seit 1945 wieder Konzentrationslager. Wir fragten uns, was wir tun können. Die Antwort war ernüchternd. Und die Einsicht wuchs schon damals, dass die kulturelle Kruste auf unserer Gesellschaft dünn und brüchig ist. Nachbarn schlachteten einander ab, es gab Massaker und Massengräber, jeglicher zivilisatorische Fortschritt schien innert Tagen und Wochen pulverisiert worden zu sein. Die Frage, ob das auch uns passieren könne, stand wie ein Elefant im Raum. Und heute stelle ich mir die Frage, ob man noch Kolumnen schreiben darf, und wenn ja, worüber. Klar ist aber auch, dass nicht reden über den Krieg auch nicht hilft.

 

Kriege sind erschütternd konstant. Sie werden immer an der Bevölkerung vorbei entschieden und befohlen. Kein Krieg würde auf demokratische Weise zustande kommen. Niemand will Krieg. Nur die Machthabenden wollen ihn. Aber auch die Reaktion auf Kriege ist konstant, konstant unvernünftig. Es scheint unausrottbar zu sein, dass wir aus einer verständlich emotionalen Haltung heraus genau das Falsche machen. Etwa all die Rufe nach Aufrüstung und – es war zu erwarten – nach einem Kampfjet «jetzt erst recht». Die Grünen haben es auf den Punkt gebracht: «Dieser Krieg ist nicht ausgebrochen, weil die Schweiz oder Europa oder die Nato zu wenig Geld in ihre Armeen investiert haben.» Ich habe nichts dagegen, wenn man sich nun über die militärische Resilienz der Schweiz Gedanken macht und auch darin investieren will. Vermutlich ist es geradezu Pflicht des Bundesrates, das zu tun. Aber ich habe sehr wohl etwas gegen die Instrumentalisierung des Ukrainekrieges. Zwingend wären ebenso hohe Investitionen in die Bewältigung und Abwehr anderer grossen Katastrophen, wie etwa des Klimawandels, weil die Schweiz durch solche Katastrophen sehr viel mehr und noch akuter bedroht wird.

 

Militärisch macht ein Bombenflugzug keinen Sinn, in der Ukraine wurden zuerst alle Pisten und Flugabwehrstellungen ausgelöscht, per Knopfdruck. Handlungsspielraum haben wir dagegen bei der Frage, wie wir möglichst viele Abhängigkeiten reduzieren können. Im Vordergrund stehen also die Energieversorgung, die Cybersicherheit oder die Informationssysteme. Und wenn wir den Blick gegen Westen richten, wo vor gut einem Jahr der Sturm auf das Capitol bürgerkriegsähnliche Bilder geliefert hat – auch das eine Sache, die wir nie, aber auch wirklich gar nie für möglich gehalten hätten –, während der noch amtierende Präsident 500 Meter vom Schauplatz entfernt die Leute aufhetzt, dann sehen wir, dass Resilienz mehr mit demokratisch stabilen Strukturen, Befindlichkeiten und Überzeugungen zu tun hat als mit dem Versuch, den Rüstungskonzernen dieser Welt noch mehr Geld in den Rachen zu stopfen. Aufrüstung führt uns regelmässig an den Rand von Katastrophen – mehr davon ist genauso irr wie der Krieg selber.

 

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