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Massenumerziehung

Man muss die Würste grillen, wenn sie prall sind. Die Gelegenheit dazu kommt mit der städtischen Volksinitiative zur gesunden Ernährung bzw. ihrem weichgekochten Gegenvorschlag. Die Tatsache, dass die InitiantInnen happige Konzessionen gemacht haben, um immerhin noch einen Teil ihrer Anliegen retten zu können, muss natürlich gar nicht heissen, dass der wurstige Wutbürger bzw. die wütende Wurstbürgerin nicht dennoch kräftig vom Leder ziehen können, um im Bild zu bleiben. Und so hat das Rechtsbürgertum den Abstimmungsmampf mit einer beherzten Tat eröffnet: Inmitten einer Stadt, die schon beinahe jedes Rabättli in eine Anbauschlacht umgepflügt hat und in der die VeganerInnen grölend durch die Strassen ziehen und reihenweise Mensen abfackeln, die Adrio im Menu 1 führen, isst die Rechte auf- und senkrecht öffentlich Wurst! Wo Vegis vornehme Zurückhaltung üben («Ich esse nichts, wo schon ein Rindli durchgefurzt hat»), beissen andere unverdrossen in den gefüllten Darm. Denn wie hiess es früher? «Jeder Zwecklos ist Widerstand.»

 

Aber so ganz zwecklos ist das bitteschön nicht, denn es geht um mehr: Um Erziehung. Reden wir Klartext: Das muss jetzt endlich mal aufhören, diese Gehirnwäsche, Gängelung und An-den-Ohren-Ziehen der Bevölkerung durch Spinatkuschler, Klimafetischisten und Kunstledersandalenträgerinnen. Der Zwang, die Welt zu retten, ist ein falscher Ansatz, die Welt will das nicht. Der Klimawandel mag zwar Tatsache sein, aber ob er uns schaden will, ist erst dann bewiesen, wenn er eingetreten ist, und das wird erstens nicht heute sein, und zweitens, wenn doch, dann immerhin überrascht er uns nicht mit leerem Magen. Der Fleisch- und Milchkonsum mag klimaschädigender und umweltzerstörender sein als der weltweite Verkehr, aber was geht mich das an, ich mag beides.

 

Die Abstimmungsvorlage umfasst einen winzigen Zusatz in der Gemeindeordnung, nämlich «die Förderung der umweltschonenden Ernährung und die Information über den Einfluss der Ernährung auf das globale Klima». Aber weil sich alle Rechten immer buchstabengetreu an die Gemeindeordnung halten, muss man komischen Formulierungen darin vorbeugen, das macht Sinn. Was diese Linksvegis mit Förderung meinen, ist ja klar: Zwangsernährung. Und in diesem Lichte gesehen ist es auch richtig, sich gegen Information zu wehren, denn Information, das weiss ja jede, ist der Anfang und Auftakt zur Massenumerziehung. Wenn Menu 2 vegetarisch und Menu 3 vegan sind, dann haben wir den Salat. Menu 1 ist dann ungeniessbar, denn was will ich dasitzen, meinen Fleischvogel vor und lauter umerzogene Kohlfresser neben mir, die schmatzend Ballaststoffe emittieren? Eben. Und beim Aufstossen grüsst der Broccoli.

 

Die VegetarierInnen machen zwar nur etwa ein Zehntel der Bevölkerung aus, aber gopfridli, wie die einen umerziehen, das ist schon der Gipfel. Fleisch essen ist das neue Rauchen. Und schon hüpfen die Grossverteiler auf den Karren drauf und eröffnen Läden nur für Vegis. Der Markt erzieht voll mit, der schreckt vor gar nichts zurück. Das tut er doch sonst nie! Dabei ist es evolutionsbiologisch erwiesen, dass wir nur so klug geworden sind, weil unsere Vorfahren Fleisch gegessen haben und ihr Gehirn dadurch stärker gewachsen ist als beim Orang Utan. Boah, tut das gut zu wissen, wenn man draussen in der Saukälte am Wahlkampfstart steht, Ketschöp an den Fingern, Wurstpapier an den Schuhen und umgeben von lauter standhaften und unerzogenen Menschen. Scheiss auf den Dickdarmkrebs.

 

Markus Kunz

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E-Quatsch

Als ich in die Politik einstieg, nahm ich mir eigentlich vor, nicht auf jeden sauren Görps zu reagieren, meiner Psychohygiene zuliebe und weil’s Zeitverschwendung ist. Aber dann kamen die Fake-News und die Elektromobilität (und eine diesbezüglich leicht durchgeknallte grüne Zürcher Nationalratsdelegation). Und daher muss ich nun mal was klarstellen.

 

E-Mobilität ist nicht die Lösung, sie ist die Perfektionierung und Verlängerung des Problems. Schon heute sind Elektroautos keineswegs ökologischer als die guten alten Dreckschleudern von der Benzin- und Dieselfront. Vor allem müssten sie, um eine positive – Ha! Reingelegt! Es muss natürlich heissen: weniger negative – Umweltwirkung zu haben, ja auch wirklich fossile Fahrzeuge ersetzen. Da dies heute aber nicht der Fall ist, sondern weil man sich einfach noch ein schickes Zweitauto mit Hybrid- oder E-Motor leistet, vergrössern sie nur die Verkehrsmenge und reduzieren damit die Mobilität. Das nennt man Reboundeffekt, hat mit technologischem Fortschritt rein gar nichts zu tun, aber viel mit Steinzeitverhalten.

 

Elektroautos haben in der Regel auch einen grossen Fussabdruck, weil sie mit dem europäischen Strommix fahren, der einen Anteil Kohlestrom enthält. Im schlimmsten Fall können sie über die ganze Lebensdauer sogar einen grösseren Fussabdruck aufweisen als Fossilautos. Aber selbst wenn wir das mit dem Strommix in Zukunft lösen – und davon sind wir, Energiewende hin oder her, so weit entfernt wie die Frauen von gleichen Löhnen –, bleibt ein massives Ressourcenproblem. Denn nebst dem herkömmlichen Materialaufwand bei der Fahrzeugproduktion kommt neu die Batterie hinzu, und die enthält nicht nur massenhaft graue (also: Herstellungs)Energie, sondern sie ist auch stofflich alles andere als gelöst. Insbesondere die Verfügbarkeit von Lithium ist ein erhebliches Problem und hat das Potenzial, Blutdiamanten oder Palmöl als soziale Skandale nahtlos abzulösen. Eine Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung kam schon 2010 zum Schluss, dass wir, bevor wir nun einmal mehr eine neue Seite im dicken Buch der Ausbeuterei aufschlagen, zuerst funktionierende Recycling-Infrastrukturen aufbauen sollten. Kommt hinzu, dass die Batterieproduktion gewaltige Strommengen verbrötelt und erhebliche Mengen an CO2-Emissionen verursacht, wenn man das auf die gesamte Lebensdauer anschaut. Auch Elektroautos haben also einen Auspuff. Sie sehen ihn nur nicht.

 

Ich bin noch nicht fertig. Wenn all das gelöst ist – richtig gelesen: wenn falls! –, dann haben wir immer noch die ganz ‹normalen› Mobilitätsprobleme, auch mit Elektroautos: Platzverschwendung, Zersiedelung, Unfälle, Verkehrstote.

 

Das einzige Problem, das mit Elektroautos scheinbar gelöst wird, ist der Lärm. Dafür tut sich hier ein neues auf, denn E-Autos sind derart leise, dass sie eine Gefahr auf der Strasse darstellen. Vermutlich werden wir das mit einem Lautsprecher lösen, der gesampelte Fahrgeräusche eines Benziners ohne Auspuff wiedergibt, damit die Leute nicht einfach auf die Fahrbahn latschen…

 

In Summa: Elektroautos sind im klassischen Sinne nicht nachhaltig, weil sie nur ein Problem durch ein anderes ersetzen. Die Einführung von Elektroautos lenkt ab vom eigentlichen Thema, nämlich, dass wir falsche Mobilitätskonzepte haben, vorab in den Städten. Das gut Gemeinte ist auch hier der Feind des Besseren. Daher: Wir brauchen Lösungen, keine Nebelpetarden, keine Pseudofortschritte. Und schon gar keine Bubenspielzeuge.

 

Markus Kunz

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Der Fall Fricker

Es ist schon ein gutes Dutzend Jahre her, als ich als Leiter des Instituts für Nachhaltige Entwicklung an der Fachhochschule in Winterthur eine Anfrage eines gewissen Jonas Fricker bekam. Er hatte sein ETH-Studium abgeschlossen mit einer Arbeit über ein Kommunalentwicklungsprojekt, das er nun gerne fortgesetzt hätte.

 

Er war beim RAV in Baden gemeldet, also nahm ich dort Kontakt auf und erreichte, dass ich Jonas als Praktikanten anstellen konnte. Schnell gelang es ihm, für sein Projekt eine finanzielle Unterstützung der Kommission für Technologie und Innovation, heute Innosuisse, zu erwirken. Ich konnte ihn als Assistenten anstellen und gab ihm die Projektleitung, was etwas unüblich war, aber in seinem Fall kein Risiko. Wenig später wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter. Sein Projekt schloss er mit Bravour ab, es galt bei der KTI als Leuchtturmprojekt. Daneben wirkte er an weiteren Forschungsprojekten zum Thema Stadt- und Regionalentwicklung mit, zusammen mit Leuten wie zum Beispiel Richard Wolff oder Katharina Prelicz-Huber, beides nicht ganz Unbekannte in Zürich.

 

Womit wir bei der Politik sind. Jonas war politisch tätig, immer auch in den Parteigremien, aber auch als kommunaler und kantonaler Parlamentarier. Er hat viel geleistet – und er war seiner Sache immer gewachsen. Kein Haudegen, kein Extremist, klar grün. Und jetzt hat er richtig Mist gebaut mit seinem Vergleich, der gewaltig missverstanden werden will, aber das eben auch zulässt. Sein Rücktritt aus dem Nationalrat ist zwar nachvollziehbar, aber er macht mich wütend. Nicht nur, weil 99 andere an seiner Stelle nicht zurückgetreten wären, sondern im Gegenteil vermutlich sogar noch verbal einen draufgesetzt hätten. Sondern auch, weil wir es hier – jenseits von seinem ‹Vergehen› – mit einem Auswuchs einer politischen Praxis zu tun haben, die immer mehr davon lebt, dass die schnelle, geile Schlagzeile mehr wert ist als jahrelange Arbeit, dass das Wüten wichtiger ist als die Kompetenz. Wir haben es mit einer Verluderung der Politik zu tun, und niemand scheint sich dieser weder entziehen zu können noch zu wollen.

 

Es ist komplett unnötig, über Jonas’ Gesinnung zu spekulieren. Er ist kein Antisemit, kein heimlicher oder unheimlicher Anhänger menschenverachtender Haltungen, er ist kein Relativist und Verharmloser, und nie war er ein Sympathisant verschiedener braun angehauchter Tendenzen in der Ökologiebewegung, das kann ich aus langjähriger Zusammenarbeit bezeugen. Es ist daneben, ausgerechnet an ihm ein Exempel statuieren zu wollen, es ist widersinnig, an seinem Votum durchdeklinieren zu wollen, was ein anständiger Grüner oder was die anständige Linke denkt. Selbstverständlich verurteilen wir alle den Holocaust, ebenso wie niemand von uns, auch die BratwurstliebhaberInnen nicht, Tierquälerei wollen, auch wenn das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. Die von allen Seiten geäusserte Selbstgerechtigkeit ist zum Kotzen.

 

Zudem gefährlich. Es brauchte nur einen Satz, notabene im Zusammenhang mit Ernährung, und schon geht die Antisemitismusdebatte los. Jahrelang haben die Rechtsbürgerlichen uns ihre widerliche Agenda diktiert, mit Minaretten, Burkas, Asylschikanen etcetera: das scheint normal zu sein, so sind sie halt. Aber kaum vergreift sich ein Grüner im Ton, entdecken plötzlich alle ihr Sensibilität. Politische Wertedebatten gehen anders.

 

Jonas hat die Konsequenzen gezogen. Die Hysterie um sein Votum zeigt aber, dass wir weit von einer irgendwie gearteten ‹Normalität› entfernt sind.

 

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Wenn’s nur das wäre

Es ist gefährlich, einen Grünen in die Ferien zu schicken. Er liest dann dort Bücher, in meinem Fall nicht nur den üblichen kriminalistischen Schund, sondern auch Naomi Kleins 700-Seiten-Werk mit dem (in der Übersetzung) knackigen Titel «Die Entscheidung. Kapitalismus versus Klima», das zwar etwas geschwätzig, aber dennoch überaus wichtig ist.

 

Man muss dazu sagen, dass Klein nach amerikanischen Massstäben eine Linke sein mag, aber von ihrem Selbstverständnis her keine Grüne, sondern einfach eine Journalistin, die eine Menge Daten sammelt, (wozu sie bequemerweise ein Team beschäftigt,) und daraus die richtigen Schlüsse zieht.

 

Und die sagen, dass der Klimawandel nicht nur der Hauptwiderspruch unserer Zeit ist und die wohl grösste Herausforderung, falls man so etwas sinnvollerweise behaupten kann, sondern auch, dass der Kapitalismus, bzw. die Art unserer Produktions- und Konsumstrukturen, der grösste Widersacher des Klimas ist. Oder einfacher gesagt: Man wird den Klimawandel nicht mit einer Begrünung dieser Strukturen bekämpfen können, denn der Kapitalismus hat keine Fehler, er ist im Hinblick auf das Klima der Fehler. In diese Richtung drückt sich auch Marcel Hänggi in der WOZ aus, wenn er bemerkt, dass Umweltschutz schon lange kein Nischenthema mehr ist. «Globale Umweltveränderungen interferieren mit allen anderen grossen Themen der Politik: Welternährung, Sicherheit, Migration, Krieg und Frieden, Energieversorgung, Verkehr, Handel, Technik.» Kurz: Der Klimawandel ist die neue Klassenfrage.

 

Das macht einen Haufen Leute stinkig, nicht nur grünliberale, weil wir seit dem Verschwinden des real existierenden Sozialismus keine Alternative zu haben scheinen. Neu ist das allerdings nicht. Man kann das am Beispiel des Wachstumszwangs sehen, welcher in kapitalistischen Strukturen angelegt ist, verknüpft mit dem Fakt, dass Wirtschaftswachstum heute immer noch mit steigendem Energie- und Ressourcenverbrauch zusammengeht (auf Deutsch: je grösser das BIP, desto höher der Ressourcenverschleiss, desto grösser die Umweltzerstörung). Man kann das mit fehlenden Anreizen erklären, die dazu führen, dass betriebswirtschaftlich Null Druck besteht, klimaschonend zu produzieren, und auf der Nachfrageseite Null Druck, klimaschonend zu konsumieren. Weshalb sich auch nie etwas ändern wird. Man könnte aber auch damit argumentieren, dass seit Jahrzehnten, wenn man die Bilanz nüchtern zieht, eigentlich rein gar nichts passiert ist, weil allfällige Fortschritte immer wieder durch Mengenzuwächse aufgefressen wurden. Im Gegenteil: Es wird ja immer verreckter. Nach zwei Jahrzehnten Nachhaltigkeitsforschung (mein Beruf) und -politik (meine Berufung) bin auch ich der Meinung, dass das 2-Grad-Klimaziel nicht mehr realistisch ist. Die hektischen Anpassungsanstrengungen von Regierungen weltweit geben mir da leider recht.

 

Klar ist auf jeden Fall, dass der Klimawandel zu allerletzt ein ökologisches Problem ist. Dem Piz Cengalo ist es so was von egal, ob seine Million Kubikmeter Geröll oben am Berg hängen oder unten in Bondos Auffangbecken liegen. Bondo hingegen ist das nicht egal. Nur: Wenn wir das stoppen wollen, müssen wir morgen, nicht übermorgen, massiv aus den fossilen Energien aussteigen. Vollstopp. Aber, so Hänggi, «ein Ausstieg aus der Nutzung des wichtigsten Rohstoffs der Wachstumswirtschaft ist ohne grundlegende Umstrukturierungen der gegenwärtigen Produktions- und Distributionsstrukturen nicht zu schaffen.» Also Revolution oder Desaster. Ich hab’s ja gesagt: Lesen ist gefährlich.

 

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Triibhuus

Eine Menge Leute werden mich hassen wegen dem folgenden Text, aber die Geschichte ist einfach zu gut, um nicht erzählt zu werden: Es war einmal eine tolle und tolerante Stadt, die aber leider unter rot-grüner Fuchtel stand. Es herrschten Recht und Gesetz, aber, oho, lange nicht überall! Es gab da auch illegale Orte, wo sich finstere Gestalten trafen und wilde Orgien feierten. Wie zum Beispiel beim Fry auf dem Üetliberg, der aber gar nicht auf Stadtgebiet lag und daher nicht als rechtsfreier Raum, sondern als innovatives Gewerbe galt.

Auch auf einem stillgelegten Fabrikareal gab es innovatives Gewerbe. Viele Menschen lebten dort, «darunter auch Familien mit Kindern. Zusammen veranstalten sie Konzerte und Ausstellungen, zeigen Filme und betreiben ein Café», wie das die Neue Züricher Zeitung romantisch beschrieb. Aber Moment! Ein Café? Wo man richtige Getränke serviert bekommt? Aus richtigen Tassen? Ohne Mehrwertsteuer, Hygienekontrolle und Pegelstandsmessung, ob die Tassli auch richtig geeicht sind? Die braven Bürger schäumten. Sie schrien: «Rechtsfreier Raum! Behördenwillkür! Vetterliwirtschaft!» Und als sie herausfanden, dass so ziemlich alle Kinder von so ziemlich allen Stadträten auf dem Areal verkehrten, da gabs kein Halten mehr. Fleissig sammelten sie Unterschriften für eine Volksinitiative, denn sie waren gute Menschen, und in eine illegale Beiz wären sie nie, aber auch wirklich gar nie gegangen! Daher durften sie sich zünftig aufregen über das illegale Areal. Das war ihr gutes Recht.

Es erging aber in diesen Tagen eine Einladung des städtischen Gemeinderates an den hohen Landrat des löblichen Kantons Uri, man wolle sich doch am 8. September in Zürich treffen, den gemeinsamen Brückenschlag feiern und, nicht zuletzt, die Freundschaft bei einem Happen und ein paar Gläschen feiern. Im OK-Büro des Gemeinderates steckte man stundenlang die Köpfe zusammen, tüftelte am Programm und frug sich zu guter Letzt auch, wohin man denn essen gehen solle. Man hirnte und hirnte, und plötzlich schrie ein Bürgerlicher: «Ich hab’s! Wir zeigen denen, was innovatives Gewerbe ist!» Da hub ein Lärmen und Proleten an, dass die Fenster klirrten, aber am Schluss war man sich einig: Das Triibhuus sollte es sein, ein Resti am Stadtrand, romantisch in einem stillgelegten Gewächshaus gelegen – und so illegal wie öffentliches Pinkeln auf dem Bellevue. Denn das Triibhuus steht in einer Erholungszone und hätte gar nie eröffnet werden dürfen, und das wurde auch von gewerbefeindlichen Linksgrünen seit Jahren angeprangert. Aber das Baukollegium, ein stadträtliches Triumvirat in bürgerlicher Hand, hielt seine schützende ebensolche über das Triibhuus und erlaubte ihm die Beizerei – eben, weil es ja ein innovatives Gewerbe war.

Und so, meine Lieben, werden am
8. September die Honoratioren des schönen Kantons Uri, von denen manch einer immer wieder schüch nach oben blicken und sich fragen wird, ob plötzlich die Wölffli-Buebe durchs Glasdach brechen und alle verhaften, und die Grosskopfeten der Stadt Zürich einträchtig nebeneinander im Triibhuus sitzen, bechern und sich nicht von den paar Koch-Leuten beirren lassen, die staunend ums Glashaus stehen und sich inspirieren lassen, wie man das richtig macht, das illegale Beizen, so dass sogar ausgewachsene Stadträte, und nicht nur ihre Kinder, ihre Aufwartung machen.

Ich aber werde leider nicht berichten können, wie’s war, denn ich habe einen heiligen Eid geschworen, keine Geschenke über 200 Franken anzunehmen, und diese Summe wäre, bei meinem Schluckvermögen, wohl schon nach dem Apéro aufgebraucht.

 

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Krieg den Alten

Natürlich sagt niemand einer 87-Jährigen, du bist zu langsam und zu unbeholfen, du kannst deinen Haushalt nicht mehr alleine führen. Und es sagt ihr auch keiner, sie sei schon etwas nachlässig in der Hygiene und benötige offensichtlich Unterstützung beim Duschen. Und schon gar nicht ist jemand so gemein zu sagen, dass das aber ganz schön teuer komme, mit all den Medikamenten, der Spitex, den Haushaltshilfen und so weiter. Oder dass es doch ein bisschen unverschämt sei, so ganz alleine in einer grossen Dreizimmerwohnung zu hausen.

 
Auch geht niemand so weit, den Frust darüber, dass sie immer noch lebt, rauszulassen und zarte Andeutungen zu machen, dass 87 doch ein sehr respektables Alter und kaum jemand in der Familie derart alt geworden sei, und sie dürfe doch auf ein erfülltes Leben zurückblicken, wohingegen doch die Gebrechen des Alters gewiss nicht einfach auszuhalten seien, und ja, man verstehe sehr gut, wenn da eine grosse Müdigkeit sei – und vielleicht auch ein kleines bisschen Lebenssattheit?

 
Nein, das sagt nun wirklich niemand. Das muss auch niemand. Die Alten sagen sich das ganz alleine und selber. Denn es wird ihnen suggeriert. Immer und immer wieder, und mehr denn je. Und nicht durch einzelne, sondern durch «das System». Es gibt kaum einen grösseren Fluch als den Systemzwang. Höchstens noch, dass Systemzwänge in den letzten Jahren zunehmend und systematisch bestritten werden, verneint, weggeredet. Es hat schon in den 80ern begonnen mit Margaret Thatchers Diktum, dass es so etwas wie eine Gesellschaft gar nicht gebe «and people must look after themselves first». Eigenverantwortlich, selbstbestimmt, seines eigenen Glückes Schmied, und damit natürlich auch selber schuld, wenn man arm werden sollte, arbeitslos, einsam, krank. Oder gar: alt.

 
Seither ist es einfacher geworden, systemische Zwänge, also Einschränkungen, welche durch Strukturen verursacht werden, nicht durch individuelle Handlungen, zu vernütigen. Systeme sind ja nur eine ideologische Erfindung, oder haben Sie schon jemals ein System dabei ertappt, wie es grad wieder einen armen Alten am Kragen packt? Eben. Nein, niemand sagt den Alten, dass sie unnütz sind, asozial oder zumindest nicht mehr benötigt in dieser Gesellschaft, die es ja eh nicht gibt. Sie merken es auch so, etwa, wenn sie an der Kasse eine lange Schlange verursachen oder wenn sie beim Zebrastreifen nur bis in die Mitte gelangen, bevor es rot wird, oder wenn sie es nicht schaffen, am SBB-Automaten ein Billet zu kaufen. Niemand wirft ihnen vor, dass sie Nutzniessende eines Grundeinkommens namens AHV sind. Es reicht ja zu sagen, dass dieses – leider! – zunehmend nicht mehr finanziert werden könne.

 
Und darum kommen die Alten ganz von alleine auf die Idee, sich von einer Klippe stürzen zu wollen, weil sie ja niemandem «zur Last fallen» wollen. Und weil, Scheisse nochmals, die Klippen auch nicht grad häufig vorkommen bei uns, ist es genau darum nur noch ein kleiner und logischer Schritt, dass wir Natriumpentobarbital freigeben, damit auch geistig fitte Leute, die eigentlich nicht wirklich leiden, höchstens am Wohnungsmarkt, an der Grünphase auf dem Zebrastreifen oder am Mangel an Ergänzungsleistungen, und die ob alledem etwas lebenssatt geworden sind – damit also auch sie frei und willig und unglaublich eigenverantwortlich in den Tod gehen und uns so ganz zuletzt noch einmal kräftig nützlich werden können.

 
Ich aber sage: An dem Tag, an dem NaP freigegeben wird, erklärt ihr den Alten den Krieg. Und ich verspreche: An diesem Tag wandle ich mich vom Pazifisten zum Kriegsteilnehmer.

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Generalprävention

Ja, ich komme wie die alte Fasnacht hinterher, nachdem sich alle aufgeregt haben, aber auch bei mir kam eben so einiges obsi. Neulich, bei dieser TV-Adaption des Stücks von Ferdinand von Schirach, in dem es um diesen angeklagten Militärpiloten geht, der ein entführtes Flugi abschiesst, weil es auf ein Stadion zurast. Quasi ein paar Dutzend Menschen opfern statt ein paar Tausend. Und die ZuschauerInnen durften das Gerichtsurteil sprechen. Wobei er rechtlich ja so oder so schuldig war.

Der Trick mit dieser Form eines ethischen Dilemmas ist ebenso alt wie falsch und gefährlich, aber durchaus eine ernsthafte Frage, wenn es auch eine Banalität ist, dass «legal» und «legitim» nicht dasselbe sind. Ich erinnere mich an üble Präzedenzfälle in Form von Militärgerichtsprozessen gegen Dienstverweigerer in meiner Jugend. Da ich selber daran dachte, den Dienst zu verweigern, hatte ich mehrere davon besucht. Der argumentative Brüller der uniformierten Henker – sorry für die Polemik, aber Richter waren das auf keinen Fall, lesen Sie einfach weiter – war damals die folgende Geschichte: Sie gehen mit Ihrem Grosi im dunklen Park spazieren. Plötzlich taucht der Räuber Hotzenplotz auf und bedroht Ihr Grosi. Ganz per Zufall haben Sie eine fette Kalaschnikow in der Hand, aber leider sind Sie ja ein verfluchter Pazifist. Was tun Sie?

 

Nun, da würde einem ganz viel einfallen, was man tun könnte. War aber alles nicht gefragt, denn die Henker wollten nur etwas hören: Dass Sie Ihre Liebsten nämlich verteidigen würden. Und dann sass man in der Falle, bzw. monatelang im Knast. (Übrigens, falls Sie so meschugge waren zu behaupten, Sie würden Ihr Grosi dem Frieden zuliebe opfern, rettete Sie das nicht. Das gab nur Hohngelächter. Und ebenfalls Knast. Oder gar eine Einweisung in die Klapse.) Urteilen funktioniert seit dem letzten Hexenprozess anders. Oder vielleicht – siehe TV-Beispiel – auch nicht. Die ethische Begründung dieses Grundlagenirrtums einer zugespitzten Schein-Entscheidung zwischen Pest und Cholera ist nicht schwer: Das «gute» oder «richtige» Handeln, über welches die Ethik nachdenkt, ist nicht nur kontextabhängig, sondern immer auch etwas mehr als nur die Entscheidung zwischen Weiss und Schwarz. Es gibt nicht nur jeweils mehr Auswege und zu berücksichtigende Faktoren in solchen Geschichten, sondern es gibt auch eine differenziertere Betrachtung der «Schuld», die sich aus dem Handeln ergibt. Nicht zuletzt kennt unser Strafrecht ja auch eine Schuld ohne Strafe. Auch beim besagten Piloten wäre das durchaus ein Urteil gewesen, das der Komplexität schon etwas näherkommt.

Aber so richtig gefährlich wird es erst, wenn man das Prinzip auf die Politik überträgt, denn wir haben solche Pseudo-Entscheid­situationen neuerdings auch hier. Siehe etwa die Burka- oder die Verwahrungsfrage. Das ist dann nicht mehr nur Vorabendunterhaltung, sondern da dürfen in einer Demokratie alle mittun, ja, sie sollen es sogar. Nur hab ich dann etwas Mühe mit dem gesunden Volksempfinden als Laienrichter. Und der grosse Bruder, der ebenso gesunde Menschenverstand, oft bemühte Erklärung an Abstimmungsabenden, wird mit dem Volksbauch verwechselt. Statt einer differenzierten Urteilsbegründung mit Rechtsgüterabwägung gibt es einen Abstimmungskampf mit Messerstechern und fiesen Schöfli.

 

Zwar gibt es auch im Gericht Mehrheitsurteile, aber sie kommen auf eine völlig andere Weise zustande, sogar wenn alle RichterInnen einer Partei zugehörig sind. Und in Bezug auf den obgenannten Film: Die Illusion, dass der Mehrheitsentscheid immer der richtige sei, im Gerichtssaal immerhin Resultat langer Abwägungen, wird durch die Vermischung von Unterhaltung, Ethik, Recht und Politik leider nur noch gefördert. Aber nicht wahrer.

Immerhin. Der generalpräventive Aspekt der Militärgerichtsurteile von damals funktionierte: Ich fand dann doch nicht den Mut zur Verweigerung.

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Sicherer altern

Vor ein paar Jahren bekam ich Post. Nun gut, werden Sie sagen, tolle Kolumne, passiert mir ja rein gar nie. Aber solche Post bekommen Sie in der Tat nie, hätten Sie aber gerne. Der Absender war ein mir unbekannter Rechtsanwalt, und ich muss zugeben, dass ich leicht zusammenzuckte, der Inhalt des Briefes war dann aber sehr überraschend und bestand aus einer schlechten und einer guten Nachricht. Die schlechte war, dass ein Cousin meines Vaters gestorben war, die gute Nachricht war, dass er mir Geld vererbte.
Nun konnte ich mich sozusagen gar nicht an diesen Mann erinnern. Dass er märchenhaft reich gewesen sein soll, hätte ich nie mitbekommen – Reichtum meidet meine Sippe –, aber jedenfalls bedachte er auch die weitere Verwandtschaft, was sehr nobel von ihm war, Friede seiner Asche. Nicht, dass Sie jetzt denken, die Summe sei derart hoch gewesen, dass ich nicht mehr arbeiten muss und nur noch Kolumnen fürs P.S. schreiben kann, aber auch einem geschenkten Zwergpony schaut man nicht ins Maul.

Weshalb ich Ihnen das erzähle? Weil die Niederlage bei der Erbschaftssteuer-Initiative – kühner Übergang! – das Thema keineswegs obsolet gemacht hat, im Lichte der gegenwärtigen AHV-Hysterie gesehen sogar ganz im Gegenteil. Immer noch wundere ich mich über mein Volk, das die einmalige Chance versifft hat, stillgelegtes Vermögen in Ertrag umzuwandeln, ohne dass jemandem ein Haar gekrümmt wird, und es damit verpasst hat, die AHV ein für alle Mal zu sichern. Gut, Sie werden mich nachsichtig, aber bestimmt darauf aufmerksam machen, dass «dieses Volk» sich schon mal eine zusätzliche Ferienwoche verkniff oder sich mit rotem Kopf gegen Minarette aussprach, ohne je eines real zu Gesicht bekommen zu haben. Aber dennoch: Wie funktioniert das eigentlich mit der Gehirnwäsche?

Zum Beispiel so: Das Narrativ, wie Verdrehungen heute so schön genannt werden, dass die Demografie, sprich: Alterung, die Schuldige am AHV-«Debakel» sei, hat sich bereits derart stark in den Gehirnen eingenistet, dass auch ich wohl kaum mehr dagegen anstinken kann. Diese Haltung folgert mit logischer Unerbittlichkeit: Die ältere Generation ist zu zahlreich (selber schuld!), es gibt zu viele RentenbezügerInnen, ergo sollen sie weniger Rechte haben und weniger Geld erhalten. Meine Wahrheit setzt dagegen: Es kommt nicht darauf an, wie viele Leute in die Altersvorsorge einzahlen, sondern darauf, wieviel sie einzahlen. Das ist beileibe keine grammatische Petitesse, sondern eine Frage von Recht und Gerechtigkeit. Es ist der Unterschied zwischen Demografie und Verteilungskampf. Leider geht dieser politische Fakt immer mehr vergessen.

Unsere Gesellschaft ist mächtig schizophren: Gesundheitsterror wo man hinguckt, rapide zunehmende Lebenserwartung, Phantasien von 130 als Sterbealter, der Tod wird verdrängt. Dem gegenübergesetzt: Keine Jobs für Menschen 50+, schwindender Respekt vor dem Alter, das als finanziell nicht tragbar dargestellt wird. Ein weiteres Narrativ, denn die Generationenbuchhaltung, also die Kosten-Nutzen-Rechnung jedes einzelnen Jahrgangs, bringt es an den Tag: Die Jungen, so ungefähr bis zum Abschluss der Erstausbildung, kosten. Danach folgen produktive Jahre mit einem «Ertragsüberschuss», und ab dem AHV-Alter werden die Jahrgänge wieder saldo-negativ, will heissen: Jeder Mensch ist ca. die Hälfte seines Lebens ein Kostenfaktor und die andere Hälfte ist er oder sie NettozahlerIn. Der Witz ist allerdings, dass dies für alle gilt, egal, wie viele oder wenige in einem Jahrgang sind. Sie alle haben einbezahlt, wir Babyboomer also wesentlich mehr als andere, und sie alle sind vor dem Gesetz gleich. Wenn wir beginnen, die Regeln der Anzahl Betroffener anzupassen, erklären wir den moralischen und politischen Bankrott. Oder anders gesagt: Eine Gesellschaft, die auf den Pöstler angewiesen ist, um den Wohlstand etwas gerechter zu verteilen, ist gescheitert.

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Heimat first

Meine Abschlussarbeit an der Uni schrieb ich zum Thema Heimat. Und bevor Ihnen jetzt das Gesicht einschläft, möchte ich gleich nachschieben, dass das damals ziemlich der Zeit voraus war. Eine schwäbische Kollegin hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass es diesen Begriff in anderen europäischen Sprachen so nicht gibt, was immer den Verdacht nahelegt, dass auch das Phänomen so nicht bekannt ist. Quasi Volkssemantik. Sich in den Fluss schmeissen vor Heimweh, bloss weil am anderen Ufer ein Kuhhirt einen Ranz des Vaches jodelt, das erzählte man sich nur von Schweizer Reisläufern, und das waren ja nun wirklich keine Susis. «Pas d’argent, pas de Suisses», wie es damals schon hiess, scheiss auf die Romantik.

 

«I gloube, je chliner d’Wält wird, je wichtiger isch, wohär chunnt me u was si eigentlich üser Wurzle. Und i gloube, det isch so chli d’Sehnsucht vo de Lüüt…» Zitat Marc Trauffer, derzeit der erfolgreichste Schweizer (Volks)Musikant und Kitschproduzent. Er repliziert damit eines der gängigsten Klischees über den Heimatbegriff, eine Banalität aus Historikerkreisen: Herkunft ist Zukunft. Klar: Je globaler die Welt, desto verreckter der Absatz von Heimatplunder, Sehn-Süchten und Edelweiss. Kennen wir. Doch was passiert, wenn man seine Heimat unfreiwillig verlassen muss? Oder was, wenn der Ort, wohär me chunnt, fremd geworden ist?

 

Ich zum Beispiel komme aus Zollikon. Goldküste, Reichtum, Jetset. Denken Sie jetzt und liegen damit so falsch wie ein Edelweiss an der Bahnhofstrasse. Es waren in den 60ern eher: Kleinbürgertum, soziale Kontrolle und, ja, Armut. Plus Strukturwandel, Entwurzelung und ein beginnender Bauboom, der keinen Stein auf dem anderen liess. Quasi Gentrifizierung avant la lettre. Wir Jungen hatten eine breite Palette an Zukunft vor uns: von der Anwaltskanzlei bis zum Needle-Park. Beides aber gab’s nicht im Ort selber, wir sind alle ausgewandert, so wie die Jugend aus Andermatt oder Obergoms. Das Dorf übernommen haben: Firmen, Heime, Schönheitschirurgen und ein paar Reiche, die sich die ortsüblichen Mietzinsen leisten können. Kurz: Wenn ich heute durch Zollikon fahre, ist mir der Ort gründlich fremd geworden.

 

Where’s the beef? – Nun, die Romantik wurde schon lange zur Politik. Das Unbehagen angesichts der globalisierten Welt, egal, ob es sich in Kleiderordnungsgelüsten oder in der schicken Massenzuwanderung zum Schwing- und Älplerfest ausdrückt, ist zur Grundbefindlichkeit aufgerückt. Abschottung steht dabei Rücken an Rücken zum Heimatkitsch. Weltoffenheit ist kein Alternativprogramm mehr. Das Bürgertum hat sich unwiderruflich in der Lebenslüge verstrickt, dem Kapital freie Fahrt zu überlassen und die sozialen Folgen davon ‹dem Fremden› in die Schuhe zu schieben. Der liberale Kopf steckt tief im Sand und hofft, die Nationalisten werden ihn nicht in den Hintern beissen und die Linken von flankierenden Massnahmen verschonen. Die Linke hält dagegen zaghaft am Internationalismus fest, obschon dieser massive soziale Auflösungstendenzen zeigt, und gleichzeitig gelingt es nicht, ein neues Konzept zu denken, das realpolitisch, unter den bestehenden Machtverhältnissen, auch umsetzbar wäre.

 

Heimat ist daher gleichermassen ein reaktionäres Denkschema geworden wie zugleich ein innovativer Denkansatz, wenn es darum geht, unsere Arbeitswelt, unsere Solidarsysteme oder unsere Umwelt nicht einfach nur dem entfesselten Handel auszusetzen. Denn dieser kann mit dem Heimatbegriff rein gar nichts anfangen. Heimat hat mit Identität zu tun. Wenn diese schon durch eine Gesichtsverschleierung ernsthaft ins Wanken gebracht werden kann, dann haben wir wirklich ein Problem. Es gilt, die emotionale Stärke des Heimatbegriffs zu retten, ohne der völkischen Komponente eine Chance zu lassen. Und ja, das geht, denn soo speziell ist unsere Heimat nun auch wieder nicht.

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Staatskunst

Auf die Manifesta hatte ich mich enorm gefreut und bin nun hinterher entsprechend gefrustet. Sie war, sorry für die knappe Hinrichtung, der bare Jammer. Kein Vergleich mit vergleichbaren Veranstaltungen wie etwa der Biennalen in Venedig. Es gab häufig schlechte Kunst, eine komisch verzettelte Standort-Strategie, eigenartige Begleiterscheinungen wie etwa die Ausbeuter-Lohn-Debatte und eine insgesamt magere Auswahl. Die Grundidee wäre zwar toll gewesen, aber es wurde wenig draus gemacht. Am lächerlichsten, weil die Leere entlarvend, waren die Making-Ofs auf dem Floss am Bellevue. Und die grösste Resonanz hatte, wen hats wirklich gewundert, das nasenflügelerschütternde 80-Tonnen-Pfund aus dem Klärwerk. Ich möchte daher den Mantel des Schweigens darüber ausbreiten und Ihnen lieber von meiner kunstvollen Erleuchtung von vor genau einem Jahr berichten, die in einer Sensation hätte enden können. Oder noch kann.

Es war unüblich heiss in Zürich, und eine piekfeine Galerie am stinknoblen Paradeplatz hatte seit Monaten den kolumbianischen Maler Fernando Botero im Angebot. Botero kennen Sie, auch wenn Sie ihn nicht kennen. Er malt, seitdem er einen Pinsel halten kann, immer dieselbe Art von Figuren, die alle etwas gemeinsam haben: Sie sind keineswegs dürr. Eher so putenmässig. Er hat sogar mal eine Mona Lisa gemalt, die mit ihrem Pfannkuchengesicht allerliebst und wesentlich sympathischer daherkommt als das etwas säuerliche Original.

Weil die Zinsen im Keller und die Immobilienpreise jenseits sind, beschloss ich an einem schönen Sommertag, meine Ersparnisse in einen Botero zu investieren. In Zürich stellte er eine Serie von weiblichen Heiligen aus, die Santas, zehn irgendwo zwischen Kitsch, Kinderfingerfarben und Kunst steckengebliebene Gemälde, aber allerliebst und im Grossformat. Also zog ich mein feinstes Leinen an und den Scheitel grade und begab mich zur Galerie. Der adrette junge Mann dort, der mir nicht eben überarbeitet vorkam, führte mich herum, zeigte mir alles und machte mich insbesondere auf eine Santa aufmerksam, die Botero eigens für die Zürcher Ausstellung gemalt hatte: eine Heilige Regula. Prächtig in einem züriblauen Mantel, einem roten Blutfaden um den Hals, (der ihr künftiges Schicksal als Stadtheilige schon mal andeutete) und mit dem Kopf von Felix unter dem Arm, was, wie wir natürlich alle wissen, eine fiese Geschichtsklitterung ist, denn Felix war sehr wohl Manns genug, seinen eigenen Kopf nach der Hinrichtung noch etwas nordwärts zu tragen, aber hey – künstlerische Freiheit! Meine Wahl fiel also auf die Hl. Regula, aber meine total cool und beiläufig eingestreute Frage nach dem Preis des Bildes forderte dann leider meine ganze Contenance: So gegen eine Million sei jede Santa schon wert, meinte der Jüngling.

Ich ging hinaus an die Zürisonne, weinte bittere Tränen und beklagte meine Armut (das kommt übrigens total gut auf dem Paradeplatz). Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch, wie der Hölderlin zu sagen pflegte, und siehe, da wurde ich erleuchtet und die Hl. Regula sandte mir sogleich die rettende Idee, nämlich, dass die Stadt doch das Bild kaufen könnte (als Linker glaube ich ja nicht an Heilige, aber dafür an den Staat), quasi als Leitheilige fürs Kulturleitbild und als Wandschmuck im barocken Zürcher Ratssaal, wo es hinter meinem Sitz am Täfer, dort, wo ich jede Woche mein müdes Haupt abstütze, wenn ich dem munteren Geplapper der Opposition lausche, noch Platz hätte.

Daher also, Corine Mauch, falls du das hier liest: Nimm sofort den Hörer in die Hand und ruf die Galerie am Paradeplatz an! Vergiss nicht, einen zünftigen Rabatt auszuhandeln, wegen dem Pleitegeier, das müsste drin liegen. Denn wenn Botero hört, dass die Hl. Regula künftig in ihrer Heimat hängt – naja, sie wurde hier geköpft –, lässt er sich ganz sicher auf einen Deal ein. Freu mich!

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