Artikel, p.s. Zeitung

Lebenslüge

«Eigenverantwortung, die [Subst.]: Feenhafte Gestalt aus dem liberalen Märchenbuch. Wird sehr oft gesichtet, wurde aber noch nie nachgewiesen. Siehe auch: Einhorn» Soweit der Duden. Oder so ähnlich, bin nicht mehr sicher. Manchmal kommt es mir so vor, wie wenn gerade die Schweiz besonders anfällig darauf sei, sich etwas ins Poschettli zu lügen. Das Bankgeheimnis zum Beispiel war so ein Ding: Jahrhunderte als unverzichtbaren Bestandteil unseres Wohlstands gehalten und verbissen verteidigt. Bis man plötzlich merkte, dass man dann eher so im Schäm-di-Eggli stand und dass es ja auch ohne geht. Oder dann auch die Mär vom Wohlstand durch puren Fleiss im rohstoffarmen Land, wo sich doch zunehmend herausstellt, dass die Schweiz auch indirekt an Rohstoffen teilhaben konnte und kann (Ölhandel! Sklaven! Kakao! Blutdiamanten!).

 

Und jetzt also die Eigenverantwortung. Kein Begriff wird schöner missbraucht und ist so hohl wie der Halloweenkürbis auf dem Misthaufen. Sie wird desto mehr zelebriert, umso nutzloser ihr Dasein ist. Sie ist aber unendlich nützlich als Nebelpetarde oder als Projektionsfläche. Daherkommen tut sie très sympa, irgendwie einleuchtend als Konzept und unwiderstehlich als Ideologie. Nur hat sie halt wenig mit der Realität zu tun. Dabei: Was ist denn eigentlich so falsch an Regeln? Immerhin bedeuten Regeln, dass alle gleich behandelt werden (mein Rechtschreibeprogramm überholt mich grad ideologisch und schlägt vor: «gleichbehandelt» in einem Wort). Und das Resultat ist ja dasselbe, ob ich mich an eine Regel oder an meine eigenverantwortliche Massnahme halte. Das haben viele noch nicht gemerkt: Ob die Leute nicht mehr ins Resti gehen, weil’s verboten ist oder weil sie Bedenken haben, kommt für die GerantInnen aufs selbe hinaus. Nur, dass es beim ersteren Fall höhere Gewalt wäre, was entschädigungstechnisch vorteilhafter ist.

 

Aber darum geht’s ja nicht, werden Sie sagen. Eine Einschränkung durch eine auferlegte Regel sei ein massiver Eingriff in die Freiheit, werden Sie sagen, und wenn ich das eigenverantwortlich mache, sei es eben freiwillig. Und ich so: Ich fühl mich also besser, wenn ich mich selbst einschränke, mir freiwillig die Freiheit nehme? Das nennt man glaubs Masochismus, aber bitte schön. Und Sie so: Das war jetzt aber etwas unreif, es geht schliesslich um Verantwortung, und die sollten alle selber übernehmen! Und ich so: Eben, sag ich ja: Konjunktiv. Ein tolles Konzept. Leider ohne Rückfallposition, falls das Soll ein Soll bleibt und die realexistierende Welt nicht ganz mitkommen sollte.

 

Aber lassen wir das. Der springende Punkt ist: Der Gegensatz von Eigenverantwortung ist nicht etwa Regulierung, sondern Solidarität. Kollektive Verantwortung, gemeinschaftliches Denken und Handeln. Rücksicht. Dagegen ist das Konzept Eigenverantwortung eher eine Schwester der Ich-AG, dieser gloriosen Erfindung des Neoliberalismus. Hinter der Betonung der Eigenverantwortung steckt oft die Verweigerung, sich einordnen zu wollen in kollektive Massnahmen und Konsense. Dass meine Freiheit, keine Maske zu tragen, ihre Grenze findet an der Freiheit des Nächsten, gesund zu bleiben, wird gerade in Zeiten der wabernden Aerosole schnell missachtet. Wenn Eigenverantwortung funktionieren würde, gäbe es, vielleicht, keine Pandemie. Daher bin ich eher auf der Seite derjenigen, die staatliches Handeln und Einschreiten in diesen Zeiten befürworten. Nicht begeistert. Aber wer ist das schon hinter einer Maske.

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