Artikel, p.s. Zeitung

Liebe L.

Alle Unfalltode sind sinnlos, aber dein Tod ist es ganz besonders. Du bist letzthin an einer Kreuzung in Altstetten mit dem Velo unter einen LKW geraten und noch auf der Unfallstelle verstorben. Weiss der Geier, was der Riesenlaster dort auf der stillen Quartierstrasse zu suchen hatte, und ich nehme mal an, dass der berüchtigte tote Winkel Schuld war, aber das macht dich auch nicht mehr lebendig. Die Dienstabteilung Verkehr teilte mir mit lakonischer Expertise mit, dass sie an diesem Knoten «kein Infrastrukturproblem» hätten. Und auch die Velofachleute, die ich fragte, finden, es sei eigentlich eine harmlose Kreuzung.

 

Tja. Ist sie nicht. Fährt man die Badenerstrasse hinunter auf die Kreuzung zu, hat es dort sage und schreibe eine Linksabbiegerspur, obschon man gar nicht links abbiegen kann, ausser zu einer Firmeneinfahrt, und die rechte Spur ist dann für Rechtsabbieger und Geradeausfahrende zugleich. Daneben, klein und züri-like schmal, der Velostreifen. Ich nenne das eine Todesfalle, denn es ist ja klar, dass es hier zum Konflikt zwischen rechts abbiegenden LKW und geradeaus fahrenden Velofahrerinnen kommt.

 

Letzthin wurde eine Mahnwache für dich organisiert. Zuerst waren wir wenige. Tränen, Blumen, Kerzen, Fassungslosigkeit. Schweigend standen wir da. Und dann kamen immer mehr Menschen. Aus der Nachbarschaft, von weiter her, zu Fuss, mit dem Velo. Plötzlich waren ganz viele Kinder da, welche die Strasse mit Hunderten von Kreideherzen verzierten. Nach dreissig Minuten geschah Eindrückliches: Zu Dutzenden fuhren VelofahrerInnen schweigend die Badenerstrasse hinunter, hielten an, legten ihre Velos auf die Strasse und liessen sich immer noch schweigend auf der Kreuzung nieder. Ok, auch auf den Tramschienen. Wir waren halt wirklich viele.

 

Die AutofahrerInnen wichen aus, manche Sonnenscheinchen hupten, und andere, für die mir jetzt grad die Schimpfwörter ausgegangen sind, fluchten aus dem Fenster heraus. Und dann ging es wieder nur fünf Minuten, und die Schmier war da. Drei Jungs stiegen aus, schwer bewaffnet – ich begreife bis heute nicht, warum PolizistInnen im friedlichen Ordnungsdienst bewaffnet sein müssen –, und forderten die Leute auf abzuziehen. Man erklärte ihnen freundlich, dass man hier an einer Trauerwache sei, aber das nützte nichts. Ja, man hätte sich mühelos vorstellen können, dass sie ihren Wagen quer auf die Strasse gestellt und die Autos eine halbe Stunde um uns herum dirigiert hätten, quasi solidarisch im Dienst des Moments und nicht im Dienst des rollenden MIVs – aber so sind sie halt. Der Auftrag. Das Gesetz. Unsere (!) Sicherheit. Weisst du, in dieser Stadt gilt die freie Fahrt viel. Zumindest für Autos.

 

Natürlich gaben wir nach. Es war eine Trauerveranstaltung für dich, keine Demo. Es ging um Würde und ums Nachdenken über die Notwendigkeit, Tote in Kauf zu nehmen, Opfer zu bringen. Denn genau das tun wir ja, ganz so, wie wenn wir noch in alttestamentarischen Zeiten leben würden. Ich erinnere mich an früher, als bei Todesfällen im Strassenverkehr noch grosse schwarze Tafeln aufgestellt wurden, auf denen stand: «Hier starb ein Mensch als Opfer des Verkehrs.» Das fand ich schon als Kind komisch. Und weisst du, was das wirklich Obszöne daran ist? Es ist ein derart rhythmisch und lüpfig formulierter Satz, quasi Gute-Laune-Prosa, man könnte ihn glatt tausendmal vor sich hin summen! Mit ein paar Tanzschrittchen dazu. Nur: Im Auto kannst du nicht tanzen. Und ausserhalb ist es zu gefährlich.

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