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Nachlese

So. Nachdem sich nun alle wieder erholt haben von all den Erd- und Rechtsrutschen und die Zahlen hoffentlich stimmen, könnten wir dann wieder über Politik reden? Ja? Gut. – Wahlen bedeuten, alleine gesehen, noch nichts. Manchmal erinnern sie eher an einen Markttest à la «Ariel oder Held?» Und wenn sich dann fast 30 Prozent für Ariel entscheiden, ist noch rein gar nichts über die Waschkraft dieser Entscheidung gesagt. Dass die SVP die wahlstärkste Partei der Schweiz ist, ist nur vielleicht wichtig. Viel wichtiger ist, dass sie es (leider) schafft, den Medien ihre Themenagenda aufzuzwingen, dass sie den Bereich des Sagbaren immer weiter nach rechts rückt, oder dass sie die anderen bürgerlichen Parteien in der Migrations- oder Europapolitik vor sich her treibt. Das schaffte sie aber auch schon mit viel geringerem Wahlanteil. Darin und in der Lufthoheit über den Stammtischen liegt ihre Macht, ansonsten ist sie politisch völlig randständig. Die SVP gewinnt nur, wenn die anderen bürgerlichen Parteien mitziehen.

Wir lernen: Das Volk hat immer Recht, nicht nur dort, wo es SVP wählt, sondern auch und gerade dann, wenn es danach in den Abstimmungen so manche SVP-«Lösung» ablehnt («Begrenzungsinitiative»). Das Wort «Lösungen» gehört meines Erachtens sowieso verboten in den nächsten Jahren. Erinnern Sie sich noch an die «Lösung» von Natalie Rickli bei den hohen Krankenkassenprämien? Sie empfahl de facto die Abschaffung der obligatorischen Grundversicherung, was etwa so intelligent ist, wie wenn ich Kopfabschneiden als Lösung bei Kopfweh empfehlen täte. Es geht also nicht um Lösungen auf Teufel komm raus, sonst könnte man ja einfach das Grüne Parteiprogramm nehmen und eins zu eins umsetzen.

Ich sehe aber nicht, wie sich die Lösungsfindungskompetenz des Parlaments in den nächsten vier Jahren verbessern sollte. Die bürgerliche Mehrheit inkl. Mitte hat in den letzten vier – ach was: in den letzten 175 Jahren zum heutigen Reformstau geführt. Höchstens Druck aus dem Ausland machte dem Parlament Beine. Daher sind neue Demokratie-Rezepte gefragt, nicht nur bei der Zauberformel. – Die beste Wahlanalysesendung im Schweizer Fernsehen wurde vor der Wahl ausgestrahlt: Ein Philosophischer Stammtisch am Wahlmorgen zum Thema Demokratie. Die Historikerin Hedwig Richter brachte eine unkonventionelle und fruchtbare Sicht ein, indem sie die direktdemokratische Behäbigkeit infrage stellte, die zwar «verhebige» und breit abgestützte Resultate liefert, das aber oft mit grandioser Langsamkeit. Darauf sind wir zwar stolz, aber vielleicht können wir uns das immer weniger leisten. Dagegen postulierte Richter die zunehmende Notwendigkeit, in Zeiten der «big challenges» schnell, konsequent und vor allem: effektiv reagieren zu können, was in einer repräsentativen Demokratie besser der Fall sei. Das reflektiert, auch wenn es unschweizerisch sein mag, die Stimmung der Klimajugend (oder von uns Altersungeduldigen) wesentlich besser, die in politischen Sachfragen endlich Fortschritte sehen will, bei denen nun wirklich mehr als klar ist, dass sie keinerlei Geblöterle mehr dulden. Wir sollten endlich wieder mehr das tun, was nötig ist und nicht, was möglich ist, und das ist nicht nur abhängig von den Wahlanteilen. Allerdings steht dabei, in Anbetracht der Mehrheitsverhältnisse im neuen Parlament, die politische Mitte, wer immer sich dazuzählt, in der Pflicht. Und dazu müsste sie sich entscheiden und die progressiven Kräfte unterstützen.

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Jenseits von 9 Millionen

Ich kann nichts anfangen mit dem Gejammer über die 9-Millionen-Schweiz. Ja, die Züge sind manchmal voll, aber nach einem Vierteljahrhundert Pendeln zwischen Züri und Winti muss ich sagen: Das waren sie schon zur Zeit von 7 Millionen. Auch ein Gemoschte am Morgen und am Abend kann die Tatsache nicht überdecken, dass der Gesamtauslastungsgrad der SBB bei nur einem Drittel liegt. Wer auch in Stosszeiten unbedingt freie Plätze will, will daher auch einen tieferen Deckungsgrad. Und das ist eine Kostenfrage, oder in leichter Sprache: Sauteuer. – Andere Probleme der 9-Millionen sind hausgemacht, etwa wenn das bürgerliche Parlament alle wissenschaftlichen Fakten ignoriert und grad mal wieder Autobahnen verbreitern will. Es handelt sich da – pardon, wenn ich offene Türen einrenne, aber die in Bern haben das nicht kapiert – um einen klassischen Reboundeffekt, um ein Gesetz aus der Systemtheorie, das sehr vereinfacht besagt, dass mehr Strassen­angebot auch mehr Strassennachfrage generiert. Solche Effekte sind keine Frage menschlicher Unzulänglichkeit, sondern sie laufen zwingend ab, weil die Anreize entsprechend gesetzt werden: Ich sehe, dass mehr Kapazität vorhanden ist, also benutze ich sie auch. Und weil wir das alle tun, sind wir flugs wieder Stau. Wer Strassen sät, wird Verkehr ernten. Auch ohne Bevölkerungszunahme.

Noch falscher wird’s, wenn behauptete Folgen der Bevölkerungsentwicklung, «die gefährdete Stromversorgung, die schlechtere Qualität unserer Schulen und die zunehmende Kriminalität» (Blocher – puh, dieses Herrliberg muss ja die pure Hölle sein!), entweder gar keine sind, oder dann schlicht die Folgen einer falschen Politik, die man auch lassen könnte. Wenn die Bauernsame Nahrung für Tiere statt für Menschen anbauen will, wenn die bürgerlichen Mehrheiten weiterhin fossile Energieträger unterstützen, wenn nicht mal bestehende Gesetze zur Kostenmiete korrekt vollzogen werden, oder wenn die bürgerlichen Lobbyisten in der Gesundheitskommission alle Ansätze zur Prämiensenkung vereiteln, dann muss man halt die Schuld der Zuwanderung in die Schuhe schieben, weil man ja irgendwie vom eigenen Versagen ablenken muss. Über Strassenausbauten zu debattieren in einer Gesellschaft, in der (zu) viele Autofahrten überflüssig sind, ist pervers. Über die mangelnde Lebensmittelselbstversorgung zu jammern in einer Gesellschaft, die pro Kopf mehr als 330 Kilo essbare Lebensmittel fortschmeisst, ist krank. Über Wohnungsnot zu klönen, derweil die institutionellen Investoren unverblümt sagen, es sei nicht ihre Aufgabe, mehr günstigen Wohnraum zu bauen, sondern möglichst hohe Renditen zu erzielen, ist zynisch. Oder Wahlkampf.

Eine 9-, ja auch eine 10-Millionen-Schweiz ist möglich, das steht ausser Frage. Ob sie nötig ist, das steht auf einem anderen Blatt. Dazu müsste man sich zur Abwechslung mal über Ziel und Zweck von Wachstum unterhalten. Wer aber polemisch nur auf die schiere Zahl zielt oder rassistisch auf die Art der Zuwanderung, lenkt ab von den eigentlichen Fragen: Wie wollen wir uns entwickeln? Wie verteilen wir die Güter gerecht? Wie gehen wir mit Knappheiten um? Wie mit der Demografie? Und wie war das nochmals mit der nachhaltigen Entwicklung, Netto-null und weiteren Sonntagspredigten? Das alles sind nämlich Fragen, die auch eine 3-, 5- oder 7-Mio-Schweiz beantworten müsste. Wir haben zu viele Reformstaus, nicht zu viel Zuwanderung. – So, und nun, hopp, ab mit Ihnen an die Urnen! Und wählen Sie ums Himmels Willen weise!

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Über Toleranz

Manchmal passiert es mir immer noch, dass ich fast schon körperlich leide, wenn ich bestimmte Artikel lese. Zum Beispiel all diesen Quark betreffend Toleranz, und dass nur politisch eingemittete Menschen dazu fähig seien. Meist wird dabei nicht wirklich definiert, was unter dieser ominösen Toleranz überhaupt zu verstehen ist. In wissenschaftlichen Studien wird zwar die Literatur zusammengetragen, aber sie wird nicht verarbeitet. Was herauskommt, geht über die Aussage, dass extreme Ansichten tendenziell intolerant seien, kaum hinaus, wobei tunlichst vermieden wird zu begründen, warum, weil man die inhaltliche Debatte ja weglässt. Ist ja nicht wissenschaftlich. Und so passiert es, dass eine extreme antisemitische Haltung zum Beispiel einer extremen Haltung in der Klimafrage gleichgesetzt wird. Logo, ist ja beides extrem. Was das ist, wird dann etwa in einer ‹.objektiven› Zehner-Skala wiedergegeben, wobei diese auf Eigendeklaration beruht, was bedeutet, dass alle, die keinen Arsch in der Hose haben, behaupten, sie lägen bei 5. Also gutschweizerisch. Also genau das, was die Wissenschaft «sozial erwünscht» nennt. Was auch erklärt, warum bei den Klimaklebern dann plötzlich alle wieder intolerant sind.

Dirk Baier vom ZHAW-Institut für Delinquenz und Kriminalprävention lieferte unlängst eine abschliessende Studie zum Thema. Dort fasst er auch die aktuellen Erkenntnisse zur Definition von Toleranz zusammen, und man muss schon sagen: Das ist sehr entlarvend. Aus dem einfachen Grund, weil kaum eine Definition zu genügen weiss. Toleranz wird zum Beispiel sehr oft mit «Duldung» gleichgesetzt. Aus dieser Sicht muss ich sagen, dass ich als Linker gewaltig tolerant bin, weil ich schon seit mehr als einem halben Jahrhundert die bürgerliche Mehrheit in diesem Land klaglos erdulde. Naja, fast klaglos. Erdulden ist allerdings noch lange nicht tolerant. Aussagen wie «Wir dulden Flüchtlinge, solange sie uns nicht stören» illustrieren das. Und ja, links und rechts sind da nicht gleich. Aber ob etwa die wissenschaftlich belegte Erkenntnis, «je mehr rechts, desto homophober» dazu beiträgt, die Toleranz auf der rechten Seite des Politspektrums zu beweisen, oder ob die rechte Toleranz Putin gegenüber wirklich so vorbildlich ist: Naja. Baier belegt in einer anderen Studie über Schweizer Jugendliche auch, «dass die Affinität zu linken Parteien der Schweiz mit niedrigerer Zustimmung zu ausländerfeindlichen, muslimfeindlichen und antisemitischen Einstellungen einhergeht.» Aha. Daher sind Schlagzeilen über die linke Intoleranz nicht mehr, als was sie sind: Wahlkampf.

Dabei sind sie natürlich voll korrekt! Ich gestehe hiermit, ich bin fanatisch intolerant, weil ich eine ganze Menge nicht dulde, etwa, dass man im Namen des Mammons unser Klima zerstört, oder dass man im Namen des Herrn Kinder fickt, und so weiter: Ich könnte Seiten füllen mit meiner Intoleranz. Aber lassen wir zum Schluss doch lieber nochmals Dirk Baier zu Wort kommen. Sein Fazit: «Politisch ‹links› eingestellte Befragte sind nicht konsistent intoleranter eingestellt als politisch ‹rechts› eingestellte Befragte. Im Gegenteil gilt, dass eine ‹(eher) linke› politische Orientierung mit einer stärkeren Befürwortung verschiedener Bevölkerungsgruppen einhergeht und insofern als toleranzsteigernd einzustufen ist.» Aber auch er sagt: «Die Toleranz links-orientierter Befragter ist tatsächlich begrenzt.» Und das finde ich sehr gut so. Ich nenne es: Haltung zeigen.

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Unangenehme Wahrheiten

Soo unverständlich ist es nicht, dass die Grünen in den jüngsten Umfragen schwächeln. Die Frage ist ja auch, ob in den Medien überhaupt ernsthaft kommentiert oder bereits schon Wahlkampf gemacht wird für den Herbst. Wenn etwa die Qualitätszeitung – Gell, Sie wissen schon, dass ich den Begriff seit Jahren ironisch verwende? Das P.S. kann eben keine Zwinkersmileys – es schafft, nach den Zürcher Kantonalwahlen in einer Grafik zu zeigen, dass in den letzten Jahren nur zwei Parteien happig zugelegt haben – einmal raten, welche –, nur um dann auf zwei Textseiten das Gegenteil zu behaupten, dann ist das Kampagnenjournalismus, nichts anderes.

Dennoch: Aktuell verliert Grün. Nur können die Grünen gar nicht beliebt sein, denn sie zerstören Illusionen. Etwa die von der Unendlichkeit der Ressourcen. Oder die vom technischen Fortschritt. Oder die vom andauernden Wachstum. Sie kennen vermutlich das Bonmot, dass alle den Verrat lieben, aber niemand den Verräter. So lieben im Moment alle, sogar Ölbert, das Klima, aber niemand liebt es, wenn die Grünen behaupten, dass wir unser Verhalten ändern müssen, um es zu retten. Alle lieben mittlerweile die Energieautarkie, aber niemand liebt den Überbringer der weniger kuscheligen Nachricht, dass man dazu zuerst den eigenen Energiekonsum überdenken müsste. WählerInnen wählen immer diejenige Parteien, welchen sie eine Lösung der gerade anstehenden Probleme am ehesten zutrauen – und die Grünen haben nun wirklich keine Lösung für die anstehenden Probleme, zumindest keine angenehmen, weil diese Partei immer noch an der «inconvenient truth» (Gore) festhält, statt das Volk, «den grossen Lümmel» (Heine), mit beruhigenden Parolen in den Schlaf zu wiegen. (Stauseen im Naturschutzgebiet lösen das Energieproblem! Den Kopf in den Sand stecken bringt uns weiter bei der EU! Usw.) Ein Beispiel: Alle wissen mittlerweile, dass unsere Wirtschaft so abhängig vom Wachstum ist wie der Junkie vom Gift. Was empfehlen die Grünen? Kalten Entzug. Was empfiehlt die GLP? Umsteigen auf Methadon. Was empfiehlt die FDP? Nichts tun, der Markt regelt das. Glaubs wohl, dass niemand Grün geil findet.

Man könnte meinen, Wahlumfragen seien Beliebtheitstests – was sie teilweise ja auch sind. Das erklärt, weshalb in Zeiten, in denen es vielen gut geht und keine akuten Bedrohungen herrschen, auch Parteien gewählt werden, die unangenehme Lösungsansätze vertreten, so wie 2019. Unsere kollektive Schlamperei bei der Energiewende oder beim Artensterben, bei der internationalen Sicherheit oder der europäischen Zusammenarbeit, verstärkt durch die Erfahrung der Pandemie, hat uns nun aber derart in die Ecke getrieben, dass wir lieber dem Eiapopeia (Heine) derjenigen Parteien glauben wollen, die uns versichern, es sei alles gar nicht so schlimm, man müsse nur ein kleines bisschen weniger Technologieverbot und eine Prise mehr Eigenverantwortung nehmen (und natürlich vor allem die Zuwanderung abklemmen!), und alles renke sich ein. Das Wahlvolk «favorisiert die Ideologen mit den einfachen Rezepten», wie Daniel Binswanger kommentierte. Ungern hört man Nachrichten wie diejenige von der Energieverschwendung, von den Milliarden, mit denen wir Putins Schlächterei finanzieren, oder von der zunehmenden Ungleichheit, die unsere Gesellschaft zerstört. Je schlimmer das alles wird, desto krasser werden Lösungen für diese Probleme sein, desto weniger wählen wir Parteien, welche solche Lösungen thematisieren. Das ist verständlich. Aber fatal.

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Meienberg R.I.P.

Heuer jährt sich der Tod des Journalisten und Historikers Niklaus Meienberg zum 30sten Mal, und haben ihn wohl die meisten bereits vergessen oder nie gekannt, auch wenn er die nachfolgenden journalistischen Generationen geprägt hat wie kein zweiter. Sympathisch war er mir nie so richtig, und ich zweifle etwas daran, ob er eigentlich ein Linker gewesen ist, die Bezeichnung «stockkatholischer Atheist» trifft es da schon eher. Aber er war ein grandioser Schreiber und Stilist, ein begnadeter Polemiker, ein ausgezeichneter Rechercheur und ein guter Historiker, wenn auch etwas unorthodox, da alles miteinander. Dass er aneckte beim Bürgertum, dem er offenbar gerne angehört hätte, dass er beispielsweise jahrelang Schreibverbot beim Tagi hatte, war eher seiner direkten Art zuzuschreiben, denn er verschonte auch nicht die Hand, die ihn fütterte, und das verzeiht die Bourgeoisie nie.

Als Linker wahrgenommen wurde er deshalb, weil er konsequent Geschichte von unten schrieb und recherchierte. So etwa das Schicksal von Ernst Schrämli, der wegen dem Klau von ein paar Handgranaten, die er an die Nazis lieferte, als Landesverräter hingerichtet wurde, derweilen der Waffenhändler Emil B., den man ohne weiteres als Sauhund bezeichnen muss, weil er den Nazis Kanonen im grossen Stil lieferte, heute noch in der Stadt Zürich verehrt und hochgeachtet wird.

Meienberg hat sich vor dreissig Jahren das Leben genommen. Depressionen waren ihm nicht unbekannt, und zwei Vorfälle mussten ihm das Leben gewaltig vergällt haben. Einerseits ein Raubüberfall auf ihn an seinem Wohnort – «Z’Örlike git’s alles», hätte er wohl dazu geschrieben, denn auch er war nicht immer geschmackssicher –, und zum zweiten war das der Irakkrieg, der ihn mit «den Linken» entzweite, wobei mir nie ganz klar wurde, welche er meinte. Persönlich begegnet sind wir uns auf einer Reportage: Als 1984 Papst Johannes Paul II. in die Schweiz kam, war ich als embedded journalist im Auftrag der damaligen Wochenzeitung ‹Die Region› drei Tage in der Innerschweiz unterwegs. Meienberg war auch da, er schrieb einen Text für die WoZ, in dem er die steile These entwickelte, dass dies unmöglich JPII gewesen sein könne, sondern ein Double – er war Anhänger der Weisheit «se non è vero, è ben’ trovato». Wir tauschten manchmal Beobachtungen aus, wenn wir wieder einmal beide unseren Augen und Ohren nicht trauten, gingen aber meist getrennter Wege. Ich verfolgte eine andere Geschichte, die der völligen Verkommerzialisierung, denn diese drei Tage lieferten die gründliche Korrektur des biblischen Grundlagenirrtums, wonach man nicht zweien Herren dienen könne, Gott und dem Mammon. Wenn’s jemand kann, dann wir. Und der Heilige Stuhl. Die Grossen der Schweizer Literaturprominenz lobten Meienbergs Reportage, meine war natürlich besser.

Eitelkeit war auch Meienberg nicht fremd, aber er hat in der Tat Massstäbe gesetzt: Stilistische Innovationen, Recherche-Standards, das Benennen von Ross und Reiterin, eine gewisse (immer fundierte) Parteilichkeit, Intelligenz, solche Dinge eben. Und wenn es nur recht und billig ist, seiner zu gedenken, dann daher, weil er nicht nur Texte hinterlassen hat, die zu lesen heute noch ein Genuss ist, sondern weil er auch ein Journalismus-Ethos gelebt hat, das man heute schmerzlich vermisst. Allerdings bin ich nicht sicher, wie er mit der Tatsache umgehen könnte, dass man heutzutage alles schreiben kann und (fast) keine Sau zuhört. Das hätte ihm vielleicht genauso die Luft genommen.

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Cancel Culture

Die Debatte um Cancel Culture und die heraufbeschworene «moral panic» sind generell absurd bis lächerlich, vor allem auch, wenn es um die Hochschulen geht. Die Wissenschaftsfreiheit ist zwar in der Tat immer wieder in Gefahr, aber nicht durch ein paar Leute, die Vorträge verhindern. Wer das behauptet, lenkt von den realen Einschränkungen der Wissenschaft ab. Ich habe über ein Vierteljahrhundert in der anwendungsorientierten Forschung und Entwicklung gearbeitet. Das ist eine Phase innerhalb der Wertschöpfungskette des Wissens – doch, doch, so etwas gibt es –, die zwischen der Grundlagenforschung und der Markteinführung von Produkten und Dienstleistungen liegt. Ich habe ein interdisziplinäres Hochschulin­stitut mitgegründet und geleitet, war also letztlich für die Forschungsakquisition verantwortlich und kenne die Abläufe. Cancel Culture war nie meine Sorge.

Es ist die Machtfrage, die wie immer eine zentrale Rolle spielt. Wer ernsthaft behauptet, dass ein paar Antifa-Leute, die eine Vorlesung stören, die Macht hätten, den Wissenschaftsbetrieb lahmzulegen, verrät seine Ahnungslosigkeit. Wer diese Macht aber hat, sind die Finanzierungsstrukturen der Forschung, und es sind die Kommunikationsstrukturen und das dort herrschende Oligopol. «Wissenschaftsfreiheit» ist ein hehres Wort, aber wer seine wissenschaftliche Tätigkeit nicht finanzieren kann, kann einpacken. Mein grösster Druck als Institutsleiter kam von der Buchhaltung, schlaflose Nächte hatte ich nur, wenn eine wichtige Eingabe für ein Forschungsprojekt wieder einmal gescheitert war und eine Lücke im Budget drohte. Wer nicht grad optimal in das aktuelle Programm des Nationalfonds passt, wer das Pech hat, an einer Hochschule zu forschen, die unlängst mehrmals berücksichtigt wurde und daher nun wieder etwas zuwarten muss, oder wer unter einem Bundesrat leidet, der kein Forschungsabkommen mit der EU zustande bringt, kann am leeren Daumen saugen. Oder Leute entlassen. It’s the economy, stupid.

Der andere grosse Machtkomplex, der die Wissenschaftsfreiheit im Würgegriff hat, sind die Institutionen beim Umgang mit Daten, Informationen und Wissen. Nicht umsonst heisst es in der Wissenschaft: «publish or perish». Die einzige anerkannte Währung ist die Publikation, möglichst in einem angesehenen Medium. Der Weg dazu ist oft intransparent, immer extrem aufwändig – und der Anbietermarkt ist ein Oligopol. Weltweit gibt es, auch in Zeiten von Open Access, gerade mal 3 (richtig: drei) Grossverlage, die sich den Kuchen aufteilen. Die Preisgestaltung von wissenschaftlichen Journalen ist dadurch geprägt, dass alle Hochschulbibliotheken solche Publikationen führen müssen, dass alle Forscher:innen solches Wissen möglichst lückenlos verarbeiten müssen, dass also die Nachfrageseite kaufen muss und keine freie Wahl hat. Es ist wie beim Wohnen. Und wird ebenso schamlos ausgenutzt.

Es ginge noch weiter mit den Gefahren, zum Beispiel die Überforderung durch die schiere Informationsmenge, aber mir fehlt hier der Platz, um das auszuführen. Deshalb also: ja, die Wissenschaft ist in der Tat gefährdet, und die öffentliche Forschung ist nicht so frei, wie sie sein sollte. Aber das liegt nicht an einer irgendwie ausgearteten «Culture», sondern halt wieder einmal am guten alten Kapitalismus, der es auch in der Wissenschaft schafft, alles zur Ware verkommen zu lassen. «Kultur abschaffen», wie man «Cancel Culture» übersetzen könnte, ist da allerdings gar nicht mal so falsch.

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Vertrauen 2.0

Mein Freund Z. meint, dass das mit dem Vertrauen noch dieses Jahr endgültig den Bach ab gehen werde, und er wird’s wohl wissen, denn er ist sowohl theoretisch wie praktisch in der Lage, selber ein bisschen dafür zu sorgen. Die Rede ist nicht von den Banken, die haben das bereits verkackt, sondern die Rede ist von künstlicher Intelligenz. KI, vor allem dort, wo sie nunmehr in der Lage ist, perfekte Fakebilder und -videos in Massen zu produzieren und damit den Markt zu fluten, dürfte also noch heuer parat sein, um unser Verständnis von Wahrheit, das ohnehin schon von Trump und Keller-Sutter erschüttert wurde, nochmals zu pulverisieren. Fragt sich bloss, wie man das werten will.

Ich bin kein Experte, aber Gedanken macht man sich ja immer. Als erstes fällt mir ein, dass wir schon seit Jahren immer wieder hören und lesen müssen, dass publizierte Bilder und Videos von den Redaktionen nicht verifiziert hätten werden können, weshalb sie mit Vorsicht zu geniessen seien. Das ist ein Witz. Denn wenn du nicht weisst, ob das, was du publizierst, falsch ist, dann lass es doch einfach sein. Gerade eben haben wir alle ein Bild sehen können von einem Feuerball über dem Kreml. Die zugehörige Story eines (ukrainischen?) Drohnenangriffs war eine Nullnummer, man hätte das gar nicht senden müssen. Es gibt keinen Informationsauftrag für Desinformation. Von daher gesehen, wenn demnächst sämtliche Bilder erst mal unter Generalverdacht stehen, könnte man sich ja auch vorstellen, dass die Nachrichtenredaktionen dieser Welt etwas vorsichtiger sind und nicht grad alles raushauen, bloss weil’s Klicks hagelt. Wenn zum Beispiel im Gefolge der Grossen Vertrauenskrise nur noch «wahr» ist, was als «wahr» bestätigt werden konnte, durch welche Massnahmen auch immer, wenn also quasi eine Beweislastumkehr stattfindet, wäre das nicht nur schlecht.

Ich hab eh ein Déjà-vu: Jahrzehntelang hab ich meinen Studis gepredigt, nicht alles zu glauben, was gedruckt steht. Das Stichwort heisst Quellenkritik, und die ist mühsam und oft anspruchsvoll, aber ohne ist nichts zu machen, ziemlich egal, ob man das ‹20 Minuten› oder einen wissenschaftlichen Text liest. In einer Welt, in der vermutlich so gegen 95 Prozent der Menschen ernsthaft glauben, dass die obersten 10 Treffer bei ihrer Suchmaschine die «wahrsten» oder «richtigsten», oder doch zumindest die «relevantesten» seien, sind gefakte Bilder nur noch ein Klacks obendrauf. Solange Sie nicht wissen, wie die Liste zustande kam, wissen Sie gar nichts. – Zudem reagieren wir, wenn wir nun die Grosse Vertrauenskrise ausrufen, wie immer: falsch. Denn Entwicklungen, vorab wenn sie technologisch getrieben sind, verlaufen nie linear, sondern wir reagieren auf sie, und damit beeinflussen wir sie, so wie wir von ihnen beeinflusst werden. Neue Instanzen der «Wahrheit» werden entstehen, und auch das ist keine gänzlich neue Sache, siehe zum Beispiel die Beglaubigung einer Unterschrift. Egal ob Notariate, Zensur oder Priester: «Wahrheitsinstanzen» gab es schon immer.

Falls es denn tatsächlich soweit kommt, dass wir im Hinblick auf die nationalen Wahlen von Bullshit nur so geflutet werden, sehe ich das also nicht gar so schwarz. Wenn alle Opfer von KI-Fake werden können, dann genauso gut auch niemand. Das hat so einen demokratischen Touch. Und ein weiterer Vorteil ist, dass wir alle etwas skeptischer gegenüber «Wahrheiten» werden müssen. Aber gut, vielleicht ist das ja auch nur pfeifen im Dunkeln.

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Zechprellerei

Warum ist die Schweiz eigentlich derart reich? Die Antwort darauf ist meist phantasiereich, aber eigentlich nicht schwer, wenn auch unangenehm: Ausbeutung. Ich weiss, das tönt etwas melodramatisch, aber damit ist schlicht die Tatsache gemeint, dass wir in (mindestens) vier zen­tralen Bereichen mehr nehmen als geben, bzw. dass wir auf Pump leben. Wir bestellen und konsumieren, aber wir bezahlen nicht.

Erstens ist das die Dritte Welt, also das T-Shirt zu 5 Franken, (das wir daher auch nur einmal tragen), also die globale Arbeitsteilung, die nur ein Gesetz kennt: Geiz ist geil. Zweitens ist es die Umwelt, die wir ressourcenseitig günstig ausbeuten und auf der anderen Seite günstig belasten, weil wir enorme externe, also ungedeckte Kosten verursachen, siehe aktuell beim CO2. Drittens ist es die hierzulande unbezahlte Arbeit in der Höhe von, je nach Schätzung, 60 Prozent (!) und mehr der bezahlten Arbeit, die zu rund drei Vierteln von Frauen geleistet wird, (was wir damit ‹belohnen›, dass wir ihnen tiefere Löhne und damit auch tiefere Renten auszahlen). Und viertens leben wir auf Pump bei den kommenden Generationen, indem wir eindeutig mehr Ressourcen beziehen, als uns in einem (fiktiven) Generationenbudget eigentlich zustehen würden.

Unser sogenannte Wohlstand, der von den bürgerlichen Parteien so gerne beschworen wird, den es unbedingt zu verteidigen gilt und der selbstverständlich nur auf unserem Fleiss, Innovationskraft etc. blablabla beruht, ist also in Wahrheit fake, ganz grob geschätzt wohl mindestens zur Hälfte. Will heissen: Wenn wir diese Lebenshaltung auf dem Prinzip der Zechprellerei aufgeben müssten, müssten wir in der Tat auf materiellen Wohlstand verzichten. Unterfüttert wurde und wird das selbstverständlich – wir leben ja immerhin in einem Rechtsstaat – auch gesetzlich, so etwa beim Steuerhinterziehungsgeheimnis, das wir auf Druck des Auslands fallen lassen mussten. So wird die Haltung gestützt, dass Zechprellerei normal sei – he ja, wenn sie ja gesetzeskonform ist!

An dieser Stelle werden Sie vielleicht einwenden, das machten ja andere Länder auch so und seien dennoch nicht so reich. Und zugegeben, es mag sein, dass bei uns noch mehr Faktoren hinzukommen, auch weniger peinliche. Aber ganz offensichtlich sind wir halt einfach besser beim Zechprellen als andere, nicht zuletzt gerade wegen unserer Gesetzgebung. Die Schweiz machte im Lauf der letzten Jahrhunderte ein richtiges Geschäftsmodell daraus. Und wie wenn es noch einen Beleg dafür bräuchte, fuhr unlängst die CS mit Karacho an die Wand, «To-big-to-fail-Gesetz» hin oder her. Erstaunlich ist nicht nur das Ausmass dieses nationalen Selbstbetrugs, erstaunlich und erschreckend ist, dass die offizielle Ökonomie sich standhaft weigert, ihn zur Kenntnis zu nehmen, und erschreckend ist auch, dass wir uns derart an solche Zustände gewöhnt haben, dass wir sie als Normalzustand annehmen und daher auch verbissen verteidigen. Im Moment können wir dabei zusehen, wie eine weitere Front im Abwehrkampf eröffnet und salonfähig gemacht wird: die Zuwanderung. Schuld sind also die Fremden, keinesfalls unsere Verschwendung, unsere Anspruchshaltung, unsere Masslosigkeit. Unser nationales Geschäftsmodell funktioniert zwar gar nicht, aber an uns kann das ja nicht liegen. – Im Schweizer Recht gilt übrigens: Wer etwas kauft, im Bewusstsein, dass er die Rechnung von vorneherein nie wird bezahlen können, begeht keine Zechprellerei, sondern Betrug.

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Not. Recht. Und Vertrauen

Was hat eine Solaranlage im Alpenraum mit der «Rettung» des Bankenplatzes Schweiz oder mit dem Gaskraftwerk in Birr zu tun? Ganz einfach und salopp zusammengefasst: Das Ersäufen des Rechts im Mistloch der (behaupteten) Not. Gleich bei mehreren Themen stellt sich die Frage, ob in einem Rechtsstaat auch Ausnahmen gemacht werden dürfen vom Recht, und wenn ja, von wem, wie lange, wie ausgedehnt und aus welchen Gründen. Beim bundesrätlichen Notrecht ist das schwammig geregelt. Eine Linie ist nicht erkennbar, die Befürchtung des Missbrauchs steht im Raum. – Themenwechsel (nur scheinbar): Die Reaktionen auf die Grüne Haltung bei der Waffenausfuhr verstehe ich nicht so ganz. Auch hier müsste man bestehendes Recht ändern (geht viel zu lange, die Ukraine kann nicht warten) oder ausser Kraft setzen. Der Ball liegt also beim Bundesrat und seinem Notrecht. Die nicht im Bundesrat vertretenen Grünen geben sich legalistisch und werden dafür gebasht. Wer nicht mit Waffen helfen wolle (obschon es effektivere und legalere Wege gäbe), sei nicht wählbar. Warum also das Festhalten am mühsam erkämpften Waffenausfuhrgesetz? Ich kann nur für mich sprechen, und ich muss auch gleich gestehen, dass ich Verständnis für eine Ausnahme hätte, weil ich keine Bestätigung einer Mehrheit der UNO brauche, dass die Ukraine hier im Recht ist. Dennoch kann ich die Haltung der Grünen mühelos nachvollziehen. Das Verhalten des Bundesrates (und auch des Parlaments) in den letzten Monaten ist, nett formuliert, mehr als nur Slalom und, weniger nett formuliert: grenzt an Willkür. Putin ist zwar pfui, aber Rohstoff- bzw. Öl-/Gashandel mit Russland geht immer. Indirekte Waffenlieferung an die Ukraine geht gar nicht, direkte an das kriegsführende Saudi-Arabien no problem. In einer solchen Lage ist jede Durchlöcherung eines Gesetzes, das nicht irgendwelche Güter, sondern das Handelsgut Waffen regelt, mehr als nur heikel. Ich würde viel darauf wetten, dass ‹Ausnahmen› aus aktuellem Grund sofort dazu missbraucht würden, das Waffenausfuhrgesetz insgesamt zu unterlaufen. Unbestritten war es ja nie. Die Rüstungslobby reibt sich schon die Hände. Und da es Alternativen zu Waffenlieferungen gibt, um der Ukraine zu helfen – die Milliardengarantien für die CS beweisen das –, scheint mir der Preis einer Ausnahmeregelung zu hoch.

Denn der gemeinsame Nenner ist: Vertrauen. Wenn man, wie wir Grünen, eine Minderheit darstellen, ist man immer froh, den Schutz des Rechtsstaats auf seiner Seite zu wissen. Dieses Eis ist dünn. Warum sollten wir einem Bundesrat vertrauen, der in Sachen CS unverfroren die Interessen ausländischer Regierungen durchsetzt, die Öffentlichkeit manipuliert und wider alle Realität behauptet, das sei keine staatliche Lösung, die er da getroffen hat? Vertrauen in den Rechtsstaat ist genauso fragil wie das in die Banken. Wenn es tatsächlich möglich war, den CS-Bankrun mit einem einzigen Tweet auszulösen, dann will ich gar nicht wissen, was es braucht, um das Vertrauen in die Demokratie zu vernichten.

Ich fasse zusammen: Die Banken rettet der Bundesrat mittels Notrecht und übersteuert damit Verfassung und Gesetz. Das Waffenausfuhrgesetz übersteuert der Bundesrat nicht mit Notrecht. Weitere Entscheidungen werden mal mit (Gas-Kraftwerk Birr), mal ohne Notrecht gefällt, je nach Lust und Laune. Das Vertrauen in Regierung, Parlament, Recht und Markt ist damit wieder hergestellt / gestärkt / geschwächt / endgültig im Eimer. Nichtzutreffendes streichen.

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Standortbestimmung

Auch ich habe nach den Kantonswahlen eine Standortbestimmung durchgeführt. Das war gar nicht so einfach, weil ich grad das Gefühl habe, dass mir der Standort allerorten wegrutscht. Stand zu fassen ist schwierig, egal, ob man die GLP und die FDP wirtschaftspolitisch auseinander halten kann. Nehmen wir zum Beispiel die Energiepolitik: Nachdem endlich alle eingesehen haben, dass wir nicht mehr Milliarden für fossilen Dreck ins Ausland schaufeln, sondern uns einheimisch und erneuerbar versorgen sollten, was gut für die Umwelt, die Versorgungssicherheit, die Wirtschaft und fürs nationale Gemüt wäre, wird das von Ölbert Rösti und Konsorten flugs in eine Aktion «Au fein, hauen wir ein paar Naturschutzgebiete in die Pfanne!» umfunktioniert. Und schon ist man in der Defensive («so haben wir das nicht gemeint») und findet sich im falschen Lager wieder, zusammen mit denen, die Windrädli schon immer daneben fanden.

Dasselbe beim Militär. Dass wir die Ukraine unterstützen müssen, ist komplett unbestritten. Aber dass dies subito dazu benutzt wird, eine Rüstungs- und eine Neutralitätsdebatte anzureissen, aber nicht fertig zu debattieren, obschon beide, um im Jargon zu bleiben, heikle Minenfelder sind, die man lieber nicht unter Stress abhandeln sollte, ist nicht hilfreich. Wem es wirklich um Hilfe geht, der könnte sich meinem Vorschlag anschliessen, unser Armeebudget ein, zwei Jahre der Ukraine zu überweisen, zur freien Verfügung. Das ist neutralitätspolitisch neutral, denn wir schanzen ja den Russen mit dem Öl- und Gashandel, der über Firmen in Zug und Genf läuft, ebenfalls Milliardenerträge zu. Unsere Armee wird dafür solange aufs Eis gelegt, denn die Demokratie wird bekanntlich heuer in der Ukraine verteidigt. Dass notabene unser ungebrauchtes Gaskraftwerk, das eine halbe Milliarde Franken gekostet hat, in Birr unnötig, aber in der Ukraine dringend nötig ist, wurde auch schon erwähnt.

Oder dann die Altersvorsorge. Nachdem sich jetzt alle einig sind, dass die 2. Säule nicht funktioniert, weder bei den zu erzielenden Renditen noch bei den Verwaltungskosten noch bei den Tieflöhnerinnen noch bei den Teilzeitarbeitenden, werden nur noch alte Reflexe bedient, die da sind: länger arbeiten und tiefere Renten auszahlen. Die Frauen werden mit dem aktuellen Vorschlag der bürgerlichen Parlamentsmehrheit einmal mehr verarscht – vom verweigerten AHV-Teuerungsausgleich wollen wir gar nicht reden –, und der Elefant im Raum wird weiterhin ignoriert. Nämlich, dass es eine neue Einnahmequelle braucht, egal ob eine Erbschaftssteuer 2.0, (die fairste, liberalste und naheliegendste Lösung), eine Finanztransaktionssteuer oder was auch immer. Man will nicht einmal darüber diskutieren. Denkverweigerung wo man hinguckt. Aber die wahre Front verläuft nicht zwischen Mann und Frau oder zwischen Jung und Alt, sondern immer noch zwischen Arm und Reich. Und wer das systemfremd findet, weil die 2. Säule schliesslich keine Solidar-Kuschel-Institution sei, der kann sich ja der Idee anschliessen, sie aufzulösen und die AHV damit zu alimentieren. Ich hab immer noch kein schlüssiges Argument dagegen gehört.

Mir schwirrt der Kopf. Dass akute Krisen dazu instrumentalisiert werden, um sein eigenes Süppchen darauf zu kochen, damit muss man in der Politik immer rechnen, das mach ich ja auch. Aber irgendwelche pervertierten Ideen, siehe Beispiele oben, erpresserisch als Lösung zu bezeichnen, ist miese Küche. Nicht alles kann als «Standortbestimmung» gerechtfertigt werden.

 

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