Artikel, p.s. Zeitung

Pendeloffice

Das Teil heisst neuerdings also «Loungehose» und ist die Beinbekleidung meiner Wahl, die auch ich gerne im Homeoffice trage. Denn auch ich gehöre zu den Krisengewinnlern der Pandemie, insofern als ich zuhause nur noch very casual angezogen bin, mindestens ab Bauchnabel abwärts. Die Combinaison von Loungehose und Krawatte ist im Reich der Sitzzwerge ein ebenso mögliches wie verbreitetes Stilmittel geworden. Allerdings, wenn Sie sehen könnten, wie chic ich… aber ich schweife ab.

 

Nun sind wir soweit: Die chaotische Zeit zwischen den Welten ist angebrochen. Nachdem es immer noch nicht zur Sorgfaltspflicht von Arbeitgebern gehört, dass (nur ganz, ganz minimal übergewichtige) Arbeitnehmende von einer Besprechung zur anderen gebeamt werden können, gerate ich neuerdings öfters in logistische Aporien (von griech. «he aporía», die Ratlosigkeit, eigentlich (Aus-)Weglosigkeit – bitte, gern geschehen): Soeben noch an einer Videokonferenz in Loungehose, und eine halbe Minute nach deren Ende sollte ich physisch und in gebügelten Beinkleidern irgendwo im Juhee sein. Solche Weglosigkeit stellt sich zwar nicht gegen die Mode, aber gegen die Physik.

 

Am Arbeitsplatz dann Zustände wie in der DDR. Schlange stehen am Eingang, Kontrolle durch Menschen in dunkelblauen Beinkleidern mit Beintaschen und einem coolen Hoodie, auf dem «Staff» steht. Mein Trick, länger auszuschlafen, damit ich nicht in die Rush Hour gerate, funktioniert nicht schlecht, und wenn ich erst um halb zehn ins Büro schlendere, tue ich halt so, wie wenn ich vorher noch eine Loungehosensitzung gehabt hätte: Alleine der Garderobewechsel danach braucht ja Zeit. Aber Scherz beiseite, denn eigentlich ist die ganze Situation wirklich langsam ebenso ernsthaft wie mühsam. Man kann zuschauen, wie der Konflikt – welcher eigentlich genau? – hochgeschaukelt wird, wie sich so etwas wie eine nationale Krise heranbildet und alle noch ein kleines Bisschen mehr ins Feuerchen pusten, nur dass einfach niemand weiss, wer sich wie stark verbrennen wird.

 

Was mich am meisten beelendet: All die wohlstandsverwahrlosten Halbintellektuellen jeglicher politischer Couleur, die vom Verlust der «Freiheit» jammern, selber aber keinen Plan haben. Null. Nicht die geringste Vorstellung davon, wie wir aus der behaupteten Knechtschaft herausfinden sollen. Nur das Geschrei nach Freiheit, etwa gleich sinnvoll wie der Slogan «patria o muerte», danke für die Auswahl. Egoismus top, Solidarität flop. Die Auslastung der Intensivstationen in den Spitälern des Kantons Zürich beträgt immer noch rund 85 Prozent, so lese ich, und sie ist in immerhin neun Kantonen der Schweiz besorgniserregend hoch, ausser im Kanton Uri (Trychler!). Die Anzahl Wikipedia-Abfragen zu «Corona» lässt zwar massiv nach, dafür haben wir vermehrt Impfdurchbrüche und junge Menschen mit schwerem Krankheitsverlauf. Und die nächste Mutation ist nur eine Frage der Zeit, nicht eine Frage der viralen Innovationskompetenz.

 

Man reibt sich die Augen. Kinderlähmung oder Pocken sind mittlerweile beinahe oder ganz ausgestorben, was vor allem entsprechenden weltweiten Impfkampagnen zu verdanken ist. Und hat damals irgendeiner «Impfzwang» geschrien? Klar gab es schon immer VerweigererInnen, das ist auch nicht das Problem. Aber es gab keine Hysterie um sie, es gab keine nationale Krise und keine Weltuntergangsstimmung. Was wir heute erleben, sind Stellvertreterkriege mit wirren Fronten. Und weit und breit keine Kleidung, die dagegen hilft.

 

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