Artikel, p.s. Zeitung

Auf Balkonien

Tag 1. Die Wahrheit ist immer das erste Opfer im Krieg. Es stimmt nicht, dass die NZZ die Druckerschwärze reduziert hat, damit man ihre Druckerzeugnisse, toilettengerecht zugeschnitten, sekundärverwerten könne. Es wird viel gelogen in diesen Tagen. Trotz beruhigender seitengrosser Inserate der Detaillisten, man müsse nicht hamstern, es habe von allem genug, sehe ich immer, wenn ich vom Home-Office heimkomme, rudelweise Hamster mit Dinkelvollkornhörnlipaketen in den Backentaschen. Gleichzeitig leeren sich die Gestelle mit den Haushaltrollen reziprok zum Anstieg der Anzahl WC-Rollen-Witze. Das ist so beunruhigend wie die Stimme vom BAG-Koch, wenn er wieder die neuesten Fax-Zahlen bekannt gibt. Absurde Zeiten.

 

Tag 2. Ganz vorne beim Wettbewerb um das Wort des Jahres: «Systemrelevanz» (knapp vor «Lagerkoller»). Damit verbunden: Die Umwertung aller Werte. Denn als systemrelevant erweisen sich nun plötzlich all die Tätigkeiten, die es nie waren, etwa die Kinderbetreuung. Wer’s noch nicht gemerkt hat: Grossmütter sind ihr Geld wert. Das wussten wir zwar schon vorher, aber wissen ist nichts, erfahren ist alles. Das weiss sogar ein Virus, das scheints ohne Gehirn auskommt und trotzdem die Welt regiert. (Schämen Sie sich – ich merke doch, was Sie jetzt gedacht haben!) Grossmütter gehören zu den Bevölkerungsgruppen, die, wie etwa das Pflegepersonal, nicht streiken können, da sie sonst den Kindern schaden würden, nicht den Mächtigen. Daher legt das Virus sie lahm, die Grossmütter, und damit auch die Mächtigen.

 

Tag 3. Ehre dem Balkon! Und sorry an alle, die keinen haben. Der Balkon erweist sich in diesen Tagen als unverzichtbar, lebensrettend, psychohygienisch, politisch. Egal, ob man, wie in Italien, darauf singen muss, egal, ob man, wie bei uns, darauf Beifall klatschen muss, oder auch, ob man, wie im Kosovo, sogar lautstark dagegen protestieren muss, dass die Amis die Regierung absetzen – der Balkon ist überall die Bühne, das Fenster zur Welt. Und wenn das so weitergeht, wer weiss, werden wir alle darauf Ferien machen.

 

Tag 4. Apropos Ironie: Die Eltern sollen, wenn sie zuhause mit ihren Kindern Schule machen, mit ihnen Hochdeutsch sprechen, damit ihre Rolle klar wird. Nicht Papi, sondern Oberlehrer. Wird offenbar öfters verwechselt. Ernsthafter ist dagegen schon die Beobachtung, dass es nicht weit her ist mit der Resilienz unserer Systeme. Es bricht alles mit beunruhigender Geschwindigkeit zusammen: Gesundheit, Arbeit, Sport, Kultur, Verkehr. Wer das noch nötig hat, merkt erst jetzt, wie wichtig der Staat ist. Und sei es nur, um schnell einen zinslosen Kredit beantragen zu können, was dem Helikoptergeld sehr nahekommt, weil es bei Zahlungsunfähigkeit nicht zurückbezahlt werden muss.

 

Tag 5. Man mag das ja allen gönnen in diesen Tagen, und man ist beeindruckt von der Rasanz solcher Entscheidungen. Nur wünscht man sich, dass auch die Bedürftigsten in der Gesellschaft ebenso unbürokratisch Hilfe bekommen, auch und gerade, wenn sie kein KMU sind oder noch nicht mal Papiere besitzen. Oder vom derart begünstigten Arbeitgeber entlassen worden sind, was man nicht anders nennen kann als eine Sauerei. Ein Grundeinkommen für alle Einkommenslosen, und sei es nur vorübergehend, würde so manches entschärfen. Aber der Bund will noch nicht mal über Arbeitsplatzsicherung reden. Die Krise, sie legt vieles offen, auch manch wahre Gestalt.

 

Tag 6. Das Obligatorische ist heuer freiwillig. Soweit sind wir also gekommen.

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