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Vom Volk zur Crowd

Gedanken aus einem Land, dessen nationaler Zusammenhalt momentan aus einer Tunnelröhre besteht.

Vor der Katastrophe soll man natürlich alles tun, um die Katastrophe zu verhindern. Und es war in der Tat schön zu sehen, dass die Wüste Schweiz noch lebt, dass die berühmt-berüchtigte Zivilgesellschaft tatsächlich existiert und sich endlich auch wieder einmal als politisches Wesen verstanden und sich gegen den Wahnsinn zur Wehr gesetzt hat. Und so haben wir denn die Katastrophe abgewendet. – Haben wir?

Haben wir natürlich nicht, wir haben sie lediglich etwas verlangsamt. Die Rechnung der SVP, auf so oder so angelegt, ist aufgegangen. Die Basar-Methode – fordere 5, erwarte 2, behalte 3 – war erfolgreich. Zwar mag es bei der SVP lange Gesichter gegeben haben, weil sie im Vorfeld einen Sieg erwarten durfte, aber das haben die schneller weggesteckt, als wir unsere Frauen und Töchter vor ihnen verstecken konnten. Das deutliche Nein vermag kaum zu kaschieren, dass das Unheil bereits vor der Abstimmung angerichtet war. Volksinitiativen müssen nicht angenommen werden, damit sie ihre Wirkung entfalten können. Nicht zuletzt wir Linken bauen ja immer wieder auf diesen Effekt, egal ob es sich um die Abschaffung der Armee oder um die Einführung eines Mindestlohns handelt. Zweitens: Auch das klare Nein schleckt nicht weg, dass 40 Prozent der Menschen in unserem Land nichts gegen Apartheid haben, 40 Prozent ist wurscht, wenn die Grundwerte unseres Staates ausser Kraft gesetzt werden. Denn nochmals: Das nun gültige Gesetz, eines der härtesten in Europa, atmet denselben Geist. Und wird von Leuten wie zum Beispiel Ständerat Jositsch nicht wirklich kräftig in Frage gestellt. Es bleibt daher die Frage: Woran merkt man, dass die rote Linie überschritten ist?

Wohl deshalb ging mir in den letzten Wochen immer wieder, bruchstückhaft, ein bekanntes Gedicht durch den Kopf. Ich meinte, es sei von Dietrich Bonhoeffer, dem in Plötzensee von den Nazis gehenkten Theologen, aber es stammt offenbar vom zwielichtigen Pastor Martin Niemöller. Item. Es geht ungefähr so: «Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie die Juden holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der hätte protestieren können.» Nun, sie haben die kiffenden Secondos also nicht geholt, die Sozialhilfeschwindler dagegen kommen an die Kasse. Das Argument, das Volk habe immer Recht, ist in den Händen der falschen Leute nicht schwächer geworden. Auch der Faschismus stützt sich darauf ab, wenn es ihm nützt. Eine Strategie dagegen habe ich in den vergangenen Wochen nicht gehört.

Immerhin: Erstmals wurde die SVP in ihrem Kerngeschäft geschlagen. Bisher war sie ja nur mit ihren drei ausländerfeindlichen Vorlagen (Minarette, MEI, Ausschaffung) erfolgreich, der Rest ihrer Initiativen und Referenden ist meist abgeschifft. Nun muss sie sich auch hier mehr Mühe geben. Ob ihre neue Gegnerin, diese unsichere Genossin namens Zivilgesellschaft, ihr dabei weiterhin in die Suppe speuzen wird, wage ich zu bezweifeln.

Es mag links und nett sein von Frau Sommaruga, wenn sie diesen Leuten am Abstimmungssonntag persönlich gedankt hat – aber wenn es um eine politische Haltung geht und um langen Schnauf, dann sind für mich die Parteien eben doch noch etwas verlässlicher. Oder möchten Sie in einem Land leben, in dem der Faschismus nur noch durch Crowdfunding aufgehalten wird?

Ich halte mich da eher an die sächsische NPD und ihren Slogan auf einem ihrer Wahlplakate: «Konsequent abschieben! – Unser Volk zuerst!» Aha. Gut gibt’s Tunnelröhren.

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Zwei Biere für Filippo

 

Immer wenn ich zum Bahnhof Wiedikon laufe, komme ich an einem Haus vorbei – man munkelt, in Besitz eines rechtsbürgerlichen Journalisten –, das sein Herz auf der Zunge bzw. an der Fassade trägt. Dort steht nämlich in trotzigen Lettern: «Die Bewohner dieses Hauses sind freie Bürger. Sie verbrauchen so viel Strom wie sie brauchen.» Falls Sie diese Definition von Freiheit kind…äh, komisch finden, dann sind Sie auf dem Holzweg. Obschon die Sache verdächtig nach einem tapferen «Mein Auto fährt auch ohne Bäume!» tönt, gibt es wohl in ganz Zürich keine bessere Definition von Suffizienz. Quasi ein Fall von ungewollter Expertise.

So viel brauchen wie man braucht – genau das ist nämlich die Herausforderung. Genauer: Herauszufinden, wie viel man wirklich braucht! Zwischen brauchen und verbrauchen besteht bei uns bekanntlich ein gewaltiger Unterschied, denn die Menschen sind ja auch beim Brauchen nicht gleich, ganz zu schweigen vom Verbrauch ohne Nutzen. Etwa wenn Sie das Licht brennen lassen, wenn Sie nicht im Raum sind – keine Lappalien, sondern durchaus Handlungen mit Destruktivkraft, «wenn das jeder täte». Was er und sie ja auch tun. Weil sie frei sind. Konsequenzen hat das keine. Strom gibt’s im Überfluss. Die Tapferkeit ist gratis, aber zugleich der beste Beweis dafür, dass Suffizienz wenig mit Verzicht zu tun hat – solange man nur verbraucht, was man braucht.

Es gibt aber noch eine bessere Definition von Suffizienz, die hab ich vom sexiest economist alive, Tomáš Sedláček, der sie vor Jahren an einer Tagung in Winti präsentiert hat. Er hatte uns gefragt: Wissen Sie, was passiert, wenn man ÖkonomInnen die Aufgabe stellt, zwei Biere gleichmässig durch drei Leute zu teilen? – Es passiert immer dasselbe: Die bestellen sofort ein drittes Bier!

Wir haben es hier nämlich nicht nur mit einem grandiosen Versagen derjenigen Wissenschaft zu tun, die andauernd eine grosse Klappe hat, sie wüsste, wie man mit Knappheiten umgeht, und uns doch kein einziges umsetzbares Modell dazu liefert, sondern, viel schlimmer: Wenn Sie sich nun nicht Biere vorstellen, sondern die eine Welt, die wir nun mal haben, verstehen Sie, warum die Grünen eine derartige Konjunktur haben (Scherz!). Mit anderen Worten: Es geht um die Anerkennung von Grenzen, meinetwegen des Wachstums, auf jeden Fall von Ressourcen. Und vor allem geht es um Politik, denn wo das Wachstum aufhört, beginnt die Umverteilung. Und damit wird auch das Versagen der Ökonomie klar, denn dazu gibt es nur ein global anerkanntes Prinzip: das der Gerechtigkeit.

Aber ich seh schon: Sie lechzen nach Anwendung. Kommt sofort: Stadt Zürich. Verkehr. Rämistrasse. Ein schönes Beispiel für Suffizienz. Und so geht’s: Gegeben sei eine Strassenfläche zwischen Bellevue und Pfauen, links denkmalgeschützte Häuser, rechts eine riesige Mauer. Sodann jede Menge von Anspruchsgruppen: FussgängerInnen, Velos, Trämlis, Autos, Töffs. Die brauchen (sic!) alle Platz. Der ist nicht vorhanden. Es gibt also Grenzen. Was tun?

Platz umverteilen, Filippo! Und nach welchen Grundsätzen? Nach demokratischen, Stadtrat! Denn wir leisten uns ja den Luxus einer Demokratie, in der das Volk nicht nur eine klare Prioritätenordnung bei den Verkehrsträgern definiert, sondern diese sogar in ein Gesetz gegossen hat, in dem es heisst: «Die Stadt Zürich setzt konsequent auf den öV, Fuss- und Veloverkehr…»

So. Damit wird’s simpel: Suffizienz bedeutet den Rückbau von Autokapazitäten. Da gibt es keinen Spielraum. Eine Ausweitung der Systemgrenze ist nicht möglich, und die Umverteilungsspielregeln sind glasklar. Da braucht es keine ominöse ‹Gesamtschau›. Und kein Schnattern von der Falkenstrasse. Da muss jetzt einfach der Volksauftrag durchgesetzt (sic!) werden, nach Suffizienzregeln, die sich diese liebliche Stadt schliesslich selber verordnet hat.

Mannomann: Die Welt retten wär so einfach.

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Vespas, bewacht

 

The early bird catches the worm, daher hatten wir frühzeitig unsere Ferien gebucht. In Paris. Also gewissermassen eine Vorkriegs-Buchung. Nicht meine Worte, ich komme darauf zurück. Aber so kam es, dass ich das erste Mal in meinem Leben in einem Gebiet war, wo der Ausnahmezustand herrscht, und so waren diese Tage ein Lehrstück über den Satz von Carl Schmitt, wonach derjenige souverän ist, der über den Ausnahmezustand entscheidet. Und darüber natürlich, wann und wo er nicht so ernst zu nehmen ist.

Denn viel davon gemerkt hat man, touristisch, also oberflächlich gesehen, nicht. Es ist auch nicht möglich, eine Riesenstadt wie Paris vollständig sicher zu machen, und das Weihnachtsgeschäft wollte man sich ja auch nicht vermiesen lassen. Die lokalen Medien meldeten, dass es Zara kurz vor Jahresende gelungen sei, den Sonntagsverkauf und spätere Ladenschliesszeiten gegen den Widerstand der Gewerkschaften durchzudrücken. Na also, geht doch.

Zwar standen abends zwischen fünf und sechs drei Soldaten breitbeinig an einer Strassenkreuzung in unserem Quartier, womit sich das etwas seltsame Bild ergab, dass der Vespa-Händler und das Solarium tipptopp bewacht waren. Und vor den Museen stand man lange Schlange, weil man an den Eingängen zuerst durch Sicherheitsschleusen musste. Dennoch: Sicherheit sieht anders aus. Und nach der Happy Hour waren die Soldaten ja wieder weg. Auch die 11 000 Einsatzkräfte am Sylvester auf den Champs Elysées waren zwar eindrücklich, konnten aber nur schlecht übertünchen, dass das eher der Volksberuhigung diente. Feuerwerk war verboten, dafür liessen die TV-Sender die FestbesucherInnen Durchhalteparolen ins Mic sagen, und in den Ramschläden waren die Frankreichfähnchen heruntergesetzt. Nationale Selbstvergewisserung auf allen Kanälen.

Krieg also. Die Debatte über das Wording ist Jahrzehnte alt. Die westlichen Staaten haben sich bisher immer geweigert, nicht-staatliche gewalttätige Gruppierungen als Kriegsgegner anzuerkennen. Das war so bei der RAF im Deutschen Herbst, das war so im Italien der 80er oder in Algerien, wo Frankreich selbst erst spät den Kampf gegen die algerische Befreiungsbewegung als Kriegseinsatz zugab. Die Sprachregelung war jeweils, es mit kriminellen Banden zu tun zu haben, denn Krieg setzt erstens die Einhaltung gewisser Konventionen voraus, und zweitens agieren Kriminelle nicht auf Augenhöhe, Kriegsgegner aber schon. Erst Georg W. Bush hat das geändert, und wir dürfen gewiss sein, er wusste nicht, was er lostrat. Seither befinden sich diverse Nationen im Krieg gegen den Terror – und das einzige Verwunderliche daran ist, dass sie sich wundern, wenn der Krieg auch auf ihrem eigenen Territorium ausgetragen wird. Und: Die Gegner betrachten sich jetzt natürlich auch als im Krieg, und manche zivilisierte Staaten benehmen sich dafür wie kriminelle Banden.

Man muss denn auch nicht in die Pariser Vorstädte gehen, es genügt schon, etwas in den Norden, etwa nach Belleville zu fahren, wo der Anteil der muslimischen und schwarzen Bevölkerung wesentlich höher ist, und schon wusste man nicht mehr so ganz genau, ob die Soldatinnen und Soldaten eigentlich die Bevölkerung be- oder überwachten. Die Stimmung war – anders, komisch. Man wurde gefühlsmässig in der Einschätzung bestätigt, dass der Krieg in Frankreich auch hausgemacht ist. Der letzte identifizierte Attentäter des Bataclan ist Franzose.

Und bei uns? Gibt es in diesem Krieg eine Schweizer Neutralität? Ich denke nicht. Wer Waffen an Kriegsparteien liefert, nimmt Partei. Und wird zum Ziel. Das ist nur eine Frage der Zeit. Aber wenn es dann soweit sein wird, werden solche Sätze vermutlich gar nicht gut ankommen. Wir werden dann Fähnchen schwenken und Kerzen anzünden. Mais quand même: Bonn’année.

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Vom Geben

 

Von weihnachtlicher Stimmung will ich euch nun erzählen, von milden Gaben, barmherzigen Gebern, vom Betteln und Hausieren, wie es in meiner Kindheit noch per Schild an der Haustür verboten gewesen war, worum sich aber zum Glück weder der Just-Vertreter noch die jenischen Scherenschleifer einen feuchten Christstollen gekümmert haben.

 

Nur: nichts ist mehr wie früher! Die Hausierer wurden vom Internet abgelöst, die Fahrenden sind sesshaft, und die BettlerInnen haben ihre Businesspläne angepasst. Normalerweise wird man am Bahnhofquai von einer dürren Gestalt angehauen, die auf magische Weise ahnt, ob du tagesformmässig bereit bist, einen Zweier rauszurücken. Oder dann kommt so ein Fredi Hinz-Typ, der immerhin eine gute Story auf Lager hat, dich also genau genommen gar nicht anbettelt, sondern dir eine soziokulturelle Leistung verkauft. Also mache auch ich gerne mal den Zuckerberg und spende 99 Prozent meines Hosensackinhalts. So wie neulich auf dem Winterthurer Bahnhofplatz.

 

Es war Morgens vor Neun, und die Dame vor mir entsprach so gar nicht dem üblichen Typus, sondern war ganz anständig angezogen und wohl frisiert und recht deutlich im Rentenalter. Sie fragte mich, ob ich ihr nicht 5 Schtutz geben könne «für einen Kaffee».

 

Und während ich noch darüber nachsann, ob das nun die neue Armut sei, welche bereits den Mittelstand erfasst hat, und ob ein Kaffee in der Pampa wirklich nun auch schon 5 Stutz kostet, lieferte sie mir ungefragt die Erklärung für ihr Ansinnen nach: «Wüssed Si, die Bank geht nämlich erst um 10 Uhr auf.»

 

Und während ich noch darüber nachsann, ob das nun originell sei oder im Gegenteil eher von der Sorte abtörnender Ausreden, die den sich anbahnenden Akt der Nächstenliebe gleich wieder abwürgen, kramte ich schon im Hosensack nach Münzen. Ich zog eine Hampfel heraus, spürte gleichzeitig in den Fingern, dass es nie und nimmer 5 Franken waren, mich daher auch nicht zu einem Bettler machen würden, und drückte ihr das Münz mit den Worten in die Hand: «Mehr hab ich leider nicht.» Und während ich noch darüber nachsann, ob mir nun in der himmlischen Buchhaltung 15 Minuten Fegefeuer abgezogen würden oder ob Gott mir ganz im Gegenteil mein stinkiges Pharisäertum um die Ohren hauen wird, sagte die Dame nicht etwa «Schönen Dank auch der Herr» oder sonst etwas Erwartbares, nein, sie sagte laut und tröstend: «Na, das ist doch schon mal ein Anfang.»

 

Und während ich noch darüber nachsann, ob man sich eigentlich mit offenem Mund eine Erkältung holen kann, war sie schon weg.

 

Auch nicht schlecht gestaunt habe ich ein paar Wochen später am Stadelhofen. Es war schon dunkel, und eine leicht gekrümmte, sehr alte Dame, Zigarette in der Hand, Handtäschlein am Arm und ordeli gekleidet, sprach mich von schräg unten an. Ob ich ihr nicht mit etwas Geld aushelfen könne, sie habe ihr Portemonnaie verloren. Ich erschrak: So sah sie nun also aus, die Altersarmut, gebrechlich, vom Pech verfolgt, ohne Wintermantel, hungrig und in jeder Hinsicht meiner Hilfe bedürftig. Und noch bevor ich über die verschiedenen Implikationen dieses selten blöden Reflexes nachsinnen konnte, oder darüber, wie die coole Zigi in der greisen Hand zu deuten sei, griff ich in die Tasche und fand dort nur ein Nötli. Ich drückte es ihr in die Hand und fand immerhin die Sprache wieder, indem ich ihr den väterlichen Rat gab, sie solle unbedingt ihre Karten, falls vorhanden, sperren lassen. Im Abgang, über die Schulter hinweg, raubte sie mir den letzten Rest an Contenance, indem sie mir seelenruhig mitteilte: «Hani scho lang gmacht.»

Soviel im Moment zum Thema hilfsbedürftig und zerbrechlich, betteln und Advent. Eine Moral gibt’s glaubs nicht. Aber einen guten Vorsatz: Ich nehme mir fest vor, im Alter auch mal so zu werden. Schöne Festtage!

 

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Revitalisierung

 

Und zack! sind alle liberalen Vorsätze wie weggewischt. Nichts mehr mit «Die Freiheit des Individuums hat ihre Grenze allein bei der Freiheit des nächsten!» oder mit «Mehr Freiheit, weniger Staat!» Es braucht nur ein Attentat in der sogenannt freien Welt, und in der NZZ wischt sich der rédacteur en chef den Schaum vom Mund, rückt die Krawatte zurecht und hackt etwas von mehr Überwachung der Kommunikationsnetze in die Tasten und von mehr staatlicher Intervention im Sicherheitsbereich und einer massiven Einschränkung der individuellen Freiheitsrechte. Liberalismus à la carte.

Andernorts reisst man sich am Riemen. Wenige Tage zuvor wurde uns angekündigt, dass das selbst ernannte Leitmedium des Liberalismus das tun werde, was zu erwarten war, nämlich dass es in Form einer ganzen Salve von Leitartikeln der neuen Mehrheit im Parlament den Tarif durchgeben werde. Etwas, was der Köppel zwar jede Woche tut, aber das ist offenbar nur eine Stimme aus der Schmuddelecke. Nein, eine regelrechte liberale Agenda («Was die Schweiz tun muss») wurde uns versprochen, von der Demontage der Altersvorsorge über die Privatisierung der Staatsbetriebe (was nicht mal der FDP-Chef will) über die Seligsprechung des Freihandels (auch in der Landwirtschaft!) bis zur Quadratur des Zirkels (Bilaterale ohne Vergrämung der SVP). Ein Horrorweihnachtswunschzettel der scheinliberalen Ellenbogenpolitik, und das Ganze unter dem hoffnungsfrohen Titel «Revitalisierungskur». Der Tonfall dabei ähnelt einem IS-Pamphlet, alles Böse ist boko haram («Linke Ideen sind Sünde»), und alles Gute, der Weg, die Wahrheit und das Leben kommt von der liberalen Seite, denn es gibt nur einen Gott und die alte Tante ist seine Prophetin.

Reality Check: Was kann denn die neue Mehrheit, die da zur Befehlsausgabe aus der liberalen Ideologiezentrale zitiert wird, ausrichten? Nicht ganz zu Unrecht weist Ruedi Strahm darauf hin, dass das Parlament schon in der vergangenen Legislatur immer wieder weder gross rechts noch links, sondern vor allem defensiv und reaktiv entschieden hat, und dass es schon seit längerem primär dem europäischen und globalen Nachvollzug hinterherhechelt, wenn auch unter Absingen wüster Lieder. Siehe Bankgeheimnis.

Die Mär von der Inhaltsleere des Wahlkampfes, ein Topos der Medien, so vorhersehbar wie Blatters Untergang, hat etwas viel Schlimmeres überdeckt, nämlich dass die Siegerparteien in der Tat keine Rezepte für die Herausforderungen haben, die auf uns zukommen. Als da sind: Ungeheuerlichkeiten wie die postkolonialistische Liberalisierung von Dienstleistungen (TISA), die Staatsgarantie für Konzernniederlassungen (TTIP), die Energiewende inmitten eines kaputten Energiemarktes, der Klimaschutz jenseits des illusorischen 2-Grad-Ziels oder die Flüchtlinge (die notabene nichts anderes tun, als ihre individuelle Freiheit eigenverantwortlich so gut wie möglich zu wahren und sich beispielsweise vor dem IS zu retten).

Da reicht Maulheldentum nicht mehr, da wird auch der Liberalismus Farbe bekennen müssen, was er nun will: den Anschluss ans globale Freihandels-Reich oder die Grenzen dichten, Freiheit nur fürs globale Kapital, aber nicht für die Menschen, Abbau von Handelsschranken unter gleichzeitigem Aufbau von Grenzschranken gegen Flüchtlinge oder das Bekenntnis zur Solidarität auch dann, wenn grad keine Terrorattacke dies gesellschaftsfähig erscheinen lässt.

Ob darum mit Schaum vor dem Mund oder mit dem Sammelruf zur Schlacht: Dem (Neo)Liberalismus stehen strube Zeiten bevor. Anzunehmen ist, dass die Rechte einmal mehr von ihren Widersprüchen ablenken und die innenpolitische Agenda als Ersatzschlachtfeld benutzen wird, weil man sich hier noch als Kampfsau profilieren kann. Vital wie schon lange nicht mehr. Und liberal nur, wenn’s einem passt.

 

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Liebe Swissaid

 

Ich bin ein seriöser Mensch, und daher hatte ich meinen Text für diese Ausgabe schon am Montagabend parat, 24 Stunden zu früh. Wie du dir denken kannst, ging es um die Wahlen vom 18. Oktober, und ich hab, verdammt nochmal, tagelang daran gearbeitet. Aber dann, am Montagabend, fischte ich deinen Brief aus dem Kasten. Zuoberst ein Quote: «Der Klimawandel trifft vor allem die Ärmsten.»

 

Du bittest mich um Spenden für die Klimaflüchtlinge, wie üblich auf raffinierte Weise. Du beschreibst die Auswirkungen eines heissen Sommers auf ein Land wie den Tschad und belehrst mich sachkundig: «Tschad steht auf Platz fünf jener Länder, die durch den Klimawandel am stärksten gefährdet sind.» Und dann, liebe Swissaid, hast du die Chuzpe, mir zu sagen, dass meine Spende dieses Elend lindern könnte. Du schreibst Sätze wie: «Gegen die lebensbedrohlichen Folgen des Klimawandels können Sie etwas tun.»

 

Ja, liebe Swissaid, bei Gott hätten wir etwas dagegen tun können, leider aber nicht erst jetzt, wo die Scheisse bereits am Dampfen ist, sondern in den letzten 20, 30 Jahren, in genau diesen Jahrzehnten, in denen sich ein paar Leute zur Grünen Partei zusammengeschlossen und beschlossen haben, etwas gegen Gefahren wie den Klimawandel zu tun. Aber nicht etwa, indem wir die Folgen mit etwas Geld end-of-pipe-mässig mindern, oh nein, sondern indem wir uns politisch formieren und zusammenraufen und ein Programm formulieren und es einbringen bei den Mächtigen dieser Welt.

 

Was sagen wir Grünen denn seit Jahrzehnten? Hast du uns überhaupt zugehört? Und hast du uns je irgendwie öffentlich unterstützt bei unseren Bemühungen, solche Zustände, wie du sie jetzt im Tschad anprangerst, gar nicht erst geschehen zu lassen? Wo warst du, als wir dich gebraucht hätten? – Nun, du wirst mir jetzt sagen, das sei dir halt nicht möglich gewesen, denn deine SpenderInnen kämen eben nicht nur von den Grünen, und Politik sei eh nicht deine Bühne. Eben.

 

Aber jetzt schreibst du mir einen Brief, nachdem du die einmalige Chance verpasst hast, die politischen Realitäten in diesem Land am 18. Oktober zu beeinflussen, einem Land, das mit seinen protektionistischen Massnahmen wie mit seiner Verherrlichung des Freihandels so viel Unheil anrichtet, auch im Tschad. Wann begreifen du und deine Kumpanen aus der NGO-Szene endlich, dass es nichts nützt, moralisch zu argumentieren, auf Tränendrüsen zu drücken und um Geld zu betteln, solange du an den Machtverhältnissen im «Kopf des Ungeheuers», wie das Che Guevarra nannte, nichts verändern willst, noch nicht mal mit der winzigen und bescheidenen Geste, bei der nationalen Wahl deine Stimme zu erheben? Glaubst du denn ernsthaft, dass du im Tschad etwas ausrichten kannst, solange bei uns die Leute mit dem Geld, das sie dir nicht gespendet haben, ein Zweitauto posten und in den Ferien in die Malediven jetten? Willst du denn bis ans Ende deiner Tage den Mist wegräumen und die Tränen trocknen, die durch eine kreuzfalsche Politik entstanden sind? In der Zeit, in der du Bettelbriefe versendest, hebt sich der Meeresspiegel um einen weiteren Millimeter – und keine Macht der Welt, die das verhindern wollte oder würde. Ja, klar, auch wir Grünen nicht, wir sind klein und herzig. Aber versuchen hättest du es zumindest können, liebe Swissaid.

 

Und weisst du, was mich am meisten fertig macht? Dein Brief an mich ist datiert vom 15. Oktober. Drei lausige Tage, bevor eine Mehrheit des Schweizer Stimmvolkes deine und meine Hoffnungen vernichtet hat, dass wir die Energiewende wenigstens in diesem unserem mickrigen Staat retten könnten. Weisst du, liebe Swissaid, Solidarität ist keine Einbahnstrasse. Du kannst mich schon anbetteln, aber ich erwarte und verlange von dir, dass du und deinesgleichen wissen, wo sie stehen, und Farbe bekennen. Ist das zu viel verlangt?

Stinksauer

Markus Kunz

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Von wegen bedingungslos

 

Es war vor einigen Jahren auf dem Gurten, im tiefsten Winter. Ich war an die erste «Konferenz für Haushalten und Wirtschaften» der Stiftung Zukunftsrat eingeladen, an der sich allerlei linke Spinner und kreative Chaotinnen trafen und innovative Ideen austauschten. Die kleine Badran war dort, der lange Girod, der erneuerbare Rechsteiner und wie sie alle heissen. Und auch ein gewisser Daniel Straub, den ich beim vegetarischen Zmittag traf. Er erzählte mir von einer Initiativgruppe, die das bedingungslose Grundeinkommen nun wirklich mal vorantreiben und konkret zur Sammlung bringen wolle. Ich kannte die Idee schon und versuchte zaghaft, auf ein paar realpolitische Hürden aufmerksam zu machen, aber der Drive beim Tischnachbar war derart gewaltig, dass man spürte: Diese Spinnsieche ziehen das wirklich durch! Ich war begeistert.

 

Sie haben dann gesammelt und es geschafft, und letzthin war die Initiative im Nationalrat, und man muss leider sagen: Selten ist eine visionäre Idee dort derart abgeschifft wie diese. Noch nicht mal die Linke wurde recht warm damit. Auch sie war, um es mit Andi Gross zu sagen, mit dieser Utopie total überfordert. Ich möchte daher an dieser Stelle eine Lanze brechen, weil ich der Meinung bin, dass diese Idee ein paar grundlegende Probleme unserer Gesellschaft ebenso elegant wie radikal lösen, bzw. vorab unseren mehrfach pervertierten Arbeitsbegriff wieder auf die Füsse stellen würde.

 

Zunächst aber: Warum um Himmels Willen wurde es denn im Ratssaal derart emotional? Ich staune immer wieder, wenn Ideen, die ein bisschen grundsätzlicher sind und etwas weniger realpolitisch, wie zum Beispiel auch das Stimmrechtsalter Null, blitzartig zu Schaum vor dem Mäulchen führen. Wie wenn da irgendjemandem etwas weggenommen würde.

 

Dabei ist es ja genau umgekehrt: Ich hab mich an dieser Stelle ja schon einmal über unsere Mickymaus-Ökonomie ärgern müssen, die einen Systemfehler, nämlich die unbezahlte Arbeit nicht in die BIP-Berechnung einzubeziehen, konsequent durchzieht – und sich damit natürlich am Laufmeter selber ins Knie schiesst. Sätze aus der Ratsdebatte wie: «Die Mehrheit der Kommission bezweifelt den Anreiz zur Arbeitsleistung, wenn man den Lohn auch ohne bekommt» (EVP-Ingold) klingen absurd, wenn man bedenkt, dass annähernd dieselbe Arbeitsleistung in unserer Gesellschaft unbezahlt erledigt wird wie bezahlt. Wir lernen also: Lohn ohne Arbeit pfui, aber Arbeit ohne Lohn voll geil! Oder dann Voten wie die vom Ratsherr Stolz: «Arbeit muss sich lohnen, und wenn sie das nicht tut, haben wir ein Motivationsproblem.» Kicher. Der Gute musste bestimmt noch nie zu Hause den Staubsauger in die Hand nehmen oder seinem Kind den Hintern putzen. Oder dann wurde er üppig dafür motiviert, von wem auch immer. Die BDP dagegen weiss: «So funktionieren wir Menschen nun einmal. Wer arbeitet, wer mehr macht, der soll auch mehr dafür erhalten.» Genau!

Und auch die GLP sieht glasklar, wo das endet: «Diese Volksinitiative gefährdet die Wirtschaftsordnung, sie gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt, …» Vermutlich hat der Kollega Weibel solch Weisheiten geschrieben, während ihm seine Frau den losen Knopf an der Weste annähte, damit wenigstens deren Zusammenhalt in der Ratsdebatte nicht gefährdet war.

 

Um nicht ganz missverstanden zu werden: Klar hat die Initiative (teils massive) Mängel, klar haben die InitiantInnen nicht alle Fragen beantwortet – dafür haben wir übrigens einen teuer bezahlten Gesetzgeber –, und ja, jeder «revolutionäre Vorschlag» (Gross) macht zunächst mal Angst.

Aber wie der Glättli so schön sagte: «Ich glaube, um zu leben, muss Politik nicht nur die Kunst des Möglichen sein, sondern auch die Kunst, das Undenkbare denkbar und das Denkbare dann möglich zu machen.» Will heissen: Die Sache ist noch nicht gegessen.

 

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Nüchterner essen

 

Zürich isst gerade. Didaktisch vorbildlich und wie immer nachhaltig. Essen ist mittlerweile definitiv ein Politikum – und fast noch etwas emotionaler als die momentanen Flüchtlingswellen. Aber meinetwegen, reden wir übers Essen! Hier ein paar Anmerkungen zu wichtigen Stichworten.

 

Produktionsbedingungen: Die Bedingungen anzuprangern, unter denen Lebensmittel entstehen, ist zu Recht einer der zentralen Punkte. Nahrungsmittelproduktion gepaart mit kapitalistischen Produktionsbedingungen, das kommt selten gut. Das gilt allerdings nicht nur für tierische Produkte, sondern für alle. Wer als VeganerIn Früchte aus dem spanischen Almeria kauft, wo marokkanische WanderarbeiterInnen unter sklavenmässigen Bedingungen arbeiten und wo der immense Wasserverbrauch zur unaufhaltsamen Versalzung des Bodens führt, wer Gemüse aus Holland postet, das in seinem Leben viel Steinwolle und Nährlösung, aber ganz gewiss keine Erde und Sonne gesehen hat, wer in guter Absicht biologische Früchte aus Israel oder Ägypten kauft, die mehr Flugmeilen intus haben als alle Grünen zusammen, der macht sich genauso zum Nutzniesser unmenschlicher, unökologischer und unethischer Produktionsbedingungen wie Otto und Trudi Aldi. Wer als Vegi im Januar die Schnauze voll hat von den genau 8 Gemüsen, die frisch bei uns erhältlich sind und sich daher eine Erweiterung der Palette gönnt, hat bereits Ja gesagt zu Energie- und Ressourcenverschwendung, Ausbeutung und Umweltvergiftung.

 

Ethik: Ein Minenfeld. Schlachthäuser haben ihren Namen zu Recht. Aber auch wer kein Fleisch isst, ist nicht etwa fein raus, sondern sollte etwas besser darauf achten, welche Menschen seine Nahrungsmittel zu welchen Bedingungen herstellen müssen. Man muss dazu übrigens nicht nach Almeria, es reicht schon, zu Nationalrat Schibli («Schweizer Landwirtschaft – Schweizer Qualität!») aufs Gemüsefeld zu gehen. Oder zu den polnischen SpargelstecherInnen nach Flaach. Mit den heutigen Lebensmittelpreisen machen wir uns alle zu KomplizInnen ausbeuterischer Strukturen. Dass allerdings Millionen Tiere jedes Jahr umsonst getötet werden, weil sie Opfer von Foodwaste werden (6 Prozent des Fleischkonsums), ist einer der grossen Skandale unserer Zeit.

 

Gesundheit: Ich denke, niemand weiss mit Gewissheit, was gesund ist und was nicht. Für jede These gibt es Belege und Gegenbelege. Manchmal sogar Beweise. Bis zum Beweis des Gegenteils. Einigen wir uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Nur eine ausgewogene Ernährung ist gesund. Nichts sonst. Also ganz furchtbar banal: von allem etwas und von nichts zu viel.

Fleisch: Nichts gegen ein Rind, das in der Gegend bio-dynamisch mit Gras aufgewachsen ist, vom Störmetzger gemetzget wurde und im Lädeli zum angemessenen Preis, also sauteuer, verkauft wird. Alles gegen den obgenannten Skandal der Massenproduktion, die nie tiergerecht sein kann, so sehr sie sich auch bemühen sollte, und die, quasi als Kollateralschaden, den Regenwald zerstört. Das Vieh der Reichen frisst heute, noch mehr als bei der Erfindung dieses Slogans, das Brot der Armen. Und daneben vernichtet es auch noch furzend und rülpsend das Klima. Fleisch in Mengen ist eine Katastrophe. Aber Fleisch als Nahrungsmittel eben nicht.

 

It’s the region, stupid! Es gibt nur eine Lösung, welche all diese Aspekte zumindest theoretisch aufzufangen vermag: die regionale, saisonale, biologische und mindestentlöhnte Nahrungsmittelproduktion. Sie ist etwa doppelt so teuer (was in Anbetracht des lachhaft geringen Anteils am Haushaltsbudget, den die Lebensmittel bei uns ausmachen, voll o.k. ist), umwelt- und sozialkompatibel, tier- und menschengerecht. Und, wie wir heute wissen: Man könnte damit die Welt ernähren. Mit Veganismus, Vegetarismus, Karnivorismus, Flexitarismus, Fruitarismus und so weiter hat das alles übrigens recht wenig zu tun.

 

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Sippenhaft statt Solidarität

 

Ja, danke, Ferien waren gut. Ich bin trotzdem stinkig, vielleicht ist es besser, Sie halten Ihre Kinder vom folgenden Text fern.

Ich bin ja nun wirklich nicht der Typ, der immer grad sofort in Paranoia verfällt, kaum hat ihm das System mal einen kleinen Gingg versetzt. Ich hab nicht gebrüllt, als damals die Militärersatzabgabe vereinheitlicht wurde, ausgerechnet nur ganz kurz, bevor ich in den Genuss eines reduzierten Ansatzes gekommen wäre. Ich habe auch keine Bomben geschmissen, als die Kinderzulagen nach jahrelangem Kampf endlich erhöht wurden – nur gefühlte zwei Stunden, nachdem meine Kinder erwachsen wurden. Und ich nehme klaglos hin, dass ich zu meiner nicht geringen Verblüffung offenbar ein Kollegenschwein bin, weil ich seit Jahren die höchste Franchise habe und meine sämtlichen Arztrechnungen selber bezahle, keinen Rappen aus der Krankenkasse beziehe und mir nun ausgerechnet von Bundesrat Boule de Billard vorhalten muss, das sei unsolidarisch.

 

Aber seit kurzem weiss ich auch noch, dass ich als Babyboomer die Hauptursache für den Zusammenbruch des wichtigsten Solidarsystems bin, der Altersvorsorge. Und dass ich daher ebenso klarerweise gefälligst ein Opfer, ach was, grad einen Riesenscheisshaufen Opfer bringen muss, damit sich das ändert. Aber jetzt reicht’s. Soviel Perversion des Solidaritätsbegriffs hält man ja im Kopf nicht aus.

Wie immer, wenn’s soweit ist, werde ich daher mein Mantra zitieren. Setzen Sie sich bitte nun alle zusammen, synchron mit mir, im Schneidersitz aufs Parkett, legen Sie die Hände auf die Knie, schliessen Sie die Augen und sagen Sie laut (der Nachbar solls hören, den geht’s auch an): «Ich lebe verdammt nochmals immer noch in der reichsten Stadt des verflucht nochmals (fast) reichsten Kantons des verdammt nochmals reichsten Landes der Welt.» (Ich hab ja gesagt, halten Sie die Kinder fern.) Und auch wenn ich ja weiss, dass unsere Bemühungen um etwas mehr Solidarität bei der Umverteilung dieses Reichtums grad kürzlich anlässlich der Erbschaftssteuer wieder gescheitert sind, so will es mir doch nicht in den Kopf, dass ich jetzt dafür doppelt solidarisch sein soll, nur weil meine Elterngeneration halt zur gleichen Zeit die Idee mit dem Gebären hatte, so dass es mehr von mir gibt als von anderen Jahrgängen.

 

Was sonst soll denn der Begriff der Solidarität bitte schön ausdrücken als eben genau das, dass eine Gesellschaft dafür da ist, solche Unebenheiten in der Demografie auszugleichen, indem sie in den Zeiten, wo ein Mehrbedarf an Geld besteht, dieses auch dort holt, wo es ist? Genau das macht das System bei mir ja seit Jahrzehnten! Es kann doch nicht sein, dass Solidarität nur gelten soll, wenn man es sich grad mal leisten kann. Das ist nämlich dieselbe kranke Haltung, welche von den Frauen ein ‹Entgegenkommen› beim Rentenalter 65 verlangt, quasi als Sahnehäubchen dafür, dass sie vorher vier Jahrzehnte zu einem tieferen Lohn gearbeitet haben.

 

Die Generationenbuchhaltung bringt es an den Tag: Ich habe, wie alle anderen vor mir und nach mir auch, als Kind von der Gesellschaft profitiert und Geld bezogen. Und ich werde das ab 65 wieder tun, weil wir genau dafür eine Altersvorsorge haben. Dazwischen habe ich, da immer irgendwie arbeitstätig, mehr einbezahlt als bezogen, so wie es der Regelfall ist. Und wenn die Demografie, die übrigens ja wohl die berechenbarste Grösse im ganzen Riesenschlamassel ist, dazu führt, dass vorübergehend ein Bilanzfehlbetrag entsteht, dann sind daran nicht die Babyboomer schuld, sondern die Finanzierungsquellen.

Dass ich weniger erhalten soll als die vor mir und die nach mir, bloss weil meine Generation mehr Köpfe aufweist, ist weder logisch noch fair. Sondern es bedeutet schlicht und ergreifend, dass wir das Solidarsystem durch das der Sippenhaft ersetzen.

 

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Artikel, p.s. Zeitung

Stirb wirtschaftlich

 

Das Sterben geht weiter. Nein, nicht das im Mittelmeer, in Syrien oder in Nigeria, bzw. das zwar auch, sondern natürlich das Lädelisterben. Marinello verkauft, die Migros triumphiert. Manor – naja, kein Lädeli – muss gehen, Swiss Life lässt gehen. Und im Quartier geben sich die Barbetreiber häufiger die Klinke in die Hand, als der Trinker sich an die neue Barkarte gewöhnen kann. Das erstaunt niemanden. Aber das Geschrei in sämtlichen Redaktionsstuben in der Region Zürich, das erstaunt mich dann doch. Ein einzig Heulen und Zähneklappern, wenn das eintritt, was logischerweise immer eintritt, weils im System liegt.

 

Schwer verständlich, warum lauter brave Kapitalisten in ihren gut gepolsterten Redaktionssesseln sitzen und sich darüber aufregen, dass der Kapitalismus funktioniert. Wenn er das ausnahmsweise ja mal tut! Nicht so wie beim Taxigewerbe. Sondern so wie an der Bahnhofstrasse, wo die noch etwas Grösseren die Grossen fressen. Karl Marx höchstselbst hat gesagt, das Kapital neige dazu, sich zu akkumulieren, oder salopp zusammengefasst: Gross frisst klein. Was auch indirekt funktioniert. Also zum Beispiel hat jetzt grad eine kleine Bäckerei in meinem Quartier, die auch am Sonntag offen hatte, ganz zugemacht. Das könnte eventuell damit zu tun haben, dass in 30 Metern Luftlinie eine Filiale einer Innerschweizer Bäckereikette eröffnet wurde, die auch am Sonntag offen und zudem definitiv den längeren Schnauf hat.

 

Nicht, dass Sie jetzt denken, ich fände das gut. Aber auf die Schnelle ändern kann ich’s auch nicht. Was wir da erleben, ist jetzt eben diese berühmte Marktwirtschaft, und die geht so: Um überleben zu können, brauchst du mehr Marktanteile, und da der Detailhandel ein gesättigter Markt ist, machst du das, indem du einen Konkurrenten schluckst. Und, um auf die Migros zurückzukommen: Da der COOP zu dick ist, um ihn zu fressen und dir immer noch der Denner im Dickdarm herumhängt, frisst du gescheiter ein Lädeli.

 

Das ist auch der Frau Barandun vom Zürcher Gewerbeverband offenbar neu. Die Post schliesst ihre berühmteste Filiale an der Fraumünsterstrasse, natürlich aus finanziellen Gründen, what else, und die Frau Gewerbepräsidentin lässt sich in der Tageszeitung mit den Worten zitieren, früher habe die Post den Service public hochgehalten, inzwischen scheine «die Kostenoptimierung im Vordergrund zu stehen». Heiliger Detailhandel! Jetzt spricht der Gewerbeverband schon wie der VPOD, da kommt man ja ganz durcheinander.

 

Einzig, was weder Marinello noch Marx vorausgesehen haben: Dass sich der Patron Marinello, damals noch als Gewerbeverbandspolitiker, für verlängerte Ladenöffnungszeiten eingesetzt hat, obschon ihm klar sein musste, dass dies nur den Grossen nützt, und er sich nun ebenfalls lauthals beklagt, dass die Grossen das ausnutzen, ist schon irgendwie zum Brieggen. Mein Mitgefühl gilt allerdings eher seinen Verkäuferinnen, er muss sich nur noch mit seinen Millionen herumschlagen.

 

Und der Redaktionsschnösel von der Falkenstrassentante, der sich darüber echauffiert, dass er seinen regionalen Käse nun im Grossverteiler kaufen muss, kann sich ja mal in seiner Hausdruckerei melden und die NZZ-Drucker, die soeben entlassen wurden, mit ein paar Käsehäppchen und ein paar schönen Erinnerungen an seine Einkaufserlebnisse beim Marinello aufmuntern. Weil, der Kapitalist schleckt nicht immer nur Zucker, wo denkt ihr hin, er hat im Gegenteil ein beinhartes Leben, und manchmal muss er halt auch ein paar beinharte Entscheidungen treffen, um überleben zu können, und so schleift er denn auch schon mal eine Druckerei, auch wenn’s nicht unbedingt Not täte. Und jammert dann über den Verlust der guten alten Zeit, in der die Lädeli noch läbig und ohnehin alles besser war.

 

Es scheint also doch kein richtiges Überleben im falschen zu geben.

 

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