Ungleichheit, vorab materielle, ist überhaupt kein Problem. Das Problem ist höchstens, dass solche Sprüche nur von den Wohlhabenden kommen, kaum von den Habenichtsen. Ungleichheit, und wir reden hier nicht von der Banalität, dass wir alle etwas unterschiedlich sind, ist im Gegenteil eine halbe Katastrophe für eine Gesellschaft. Ich brauche die Zahlen für die Schweiz bei den Einkommens- und Vermögensunterschieden nicht zu wiederholen, sie dürften bekannt sein, und sie haben sich in der Pandemie sogar noch verstärkt. Denn nur die Realwirtschaft, die Arbeitswelt hat gelitten, die Finanzeinkommen nicht. Alle Gesundbeterei, etwa von Ueli, dem Finanzminister, bestätigt das nur, etwa wenn er sagt, die Reichen täten ja auch am meisten Steuern bezahlen und damit gebe es eine Umverteilung von oben nach unten. Wie wenn nicht im Gesetz stünde, dass alle nach ihren Verhältnissen besteuert werden, und damit zahlen die Reichen logischerweise mehr, und das hat rein gar nichts mit Ungleichheit zu tun, sondern im Gegenteil mit Gleichheit («alle nach ihren Verhältnissen»). Dass es Umverteilung gibt, von unten nach oben nämlich, ist aber so gut belegt wie der Klimawandel. Und ähnlich gefährlich.
Denn es geht nicht nur ums Geld. Ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen ist die Quelle von zahlreichen Übeln. Das ist nicht neu. Materielle Ungleichheit hat enorme Auswirkungen auf eine Gesellschaft, auch in Bereichen, wo man es gar nicht vermutet. So etwa hängen Armut und Lebenserwartung miteinander zusammen. Das hat auch etwas zu tun mit der Gesundheit, körperlicher wie psychischer, die ebenfalls ungleich ist, nicht nur wegen einer ungleichen Versorgung, Stichwort Zweiklassenmedizin, sondern auch wegen weiterer Faktoren. Sodann ist der Zugang zur Bildung ungleich, was wiederum Auswirkungen auf die künftigen Einkommenschancen und Vermögensbildung hat. Und: Ungleichheit hat auch ein Geschlecht.
Je ungleicher eine Gesellschaft einkommens- und vermögensmässig ist, desto mehr soziale Probleme hat sie tendenziell. Das kann ganz unterschiedliche Bereiche betreffen: Der Drogenmissbrauch nimmt zu mit steigender Ungleichheit, die Kindersterblichkeit, die Selbstmordrate oder etwa die Anzahl der Inhaftierten. Es mag sein, dass einige dieser Effekte nicht direkt kausal mit Ungleichheit zusammenhängen, aber in den meisten Fällen findet sich sehr wohl ein zwingender Zusammenhang. Ungleichheit neigt überdies dazu, sich selbst zu verstärken. Sie reduziert die soziale Mobilität, was zur Zementierung der Zustände führt. Das heisst, Ungleichheit bewirkt erst eine noch grössere Ungleichheit oder bewirkt zumindest keinen Rückgang. Wie auch?
Was massive Ungleichheit ist, bzw. wie weit auch wir in der Schweiz betroffen sind, ist eine politische Frage. Es nützt nichts, dabei auf andere Länder zu zeigen, in denen es noch schlimmer sei als bei uns. Es bringt auch nichts, darauf hinzuweisen, dass es immer eine gewisse Ungleichheit geben werde, oder gar polemisch den Spiess umzudrehen und von Gleichmacherei zu reden – darum geht es nicht. Es geht um nichts weniger als um den sozialen Zusammenhalt und um eine dringend notwendige Umverteilung, nur schon, um die unheilvolle Dynamik der Ungleichverteilung zu brechen. Und am allerdümmsten ist der Reflex, die 99-Prozent-Initiative abzulehnen, weil man insgeheim hofft, einmal zum restlichen einen Prozent zu gehören. Das hiesse soziale Aufstiegsmobilität. Und die wird behindert – einmal raten, wodurch.
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