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Hoppla, Frau Freiburghaus!

Nun ja, das Schlimmste haben Sie hinter sich. Ihr Vorschlag, den Alten das Stimmrecht zu entziehen, eine Idee, für die Ihnen Donald Trump, falls er denn könnte, sofort den Friedensnobelpreis verliehen hätte, hat einen ziemlichen Shitstorm entfacht. Ich wüsste nicht, dass je ein Artikel nahezu 700 Kommentare provoziert hat – und die wenigsten haben Ihnen zugejubelt. Sie haben noch nicht mal die Avenir Suisse oder die Junge SVP hinter sich scharen können, obwohl denen ja die demokratiepolitische Abrissbirne auch eher locker in der Hand liegt. Natürlich, Sie wurden von der Abschlussredaktion verarscht, indem die genau diejenige Aussage als Titel gesetzt hat, die Klickraten generiert, obwohl Ihre Ausführungen im Interview (und die Ihres Kollegen Adrian Vatter, den ich hier ja auch schon wegen seines seltsamen Demokratieverständnisses anpfeifen musste) etwas differenzierter waren. Aber auch Ihre weinerliche Replik und der komische Versuch vor einer Woche, Ihre Fehlleistung nochmals zu erklären, machten es nicht besser.

Aber egal. Was mich viel mehr beschäftigt ist, dass Sie als Politologin offenbar den Unterschied zwischen «prinzipiell» und «graduell» nicht begreifen. Daher nochmals: Jedes gesellschaftliche System, das etwas zu verteilen hat, egal ob Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen oder eben das Stimmrecht, hat, sehr vereinfacht, zwei Möglichkeiten: Entweder alle bekommen etwas oder dann nur gewisse Menschen. Letztere Lösung hat zwei Probleme: Erstens gibt es immer Ungerechtigkeiten «an der Schnittstelle». Beispiel: Wer nur einen Franken mehr verdient als für den Sozialhilfebezug zugelassen ist, fällt durchs Netz, auch wenn er oder sie ja nicht besser gestellt sind. Und zweitens: Es entsteht sofort ein (politischer) Streit darüber, wo diese Schnittstellen anzusetzen sind; und in der Regel gibt es dafür weder rationale noch gar wissenschaftliche Gründe. Die einzige adäquate (und auch nicht perfekte) Lösung ist daher, Schnittstellen abzuschaffen, das heisst, allen etwas zukommen zu lassen, also statt Sozialhilfe zum Beispiel ein bedingungsloses Grundeinkommen – oder beim Stimmrecht eben: Stimmrechtsalter Null (One man, one vote).

Gerade beim Stimmrecht kann nämlich niemand wissenschaftlich begründen, was das «richtige» Alter wäre. Sind es 16 Jahre wie in Brasilien? (Sind die reifer als wir?) Und warum 16 und nicht 16,274 Jahre? Sind es 18 Jahre von wegen Mündigkeit oder doch eher 10 von wegen Jugendstrafrecht? Die Debatte ist uferlos – vor allem aber sinnlos, denn sie zielt komplett am Thema vorbei. Das Stimmrecht ist nämlich ebenfalls «bedingungslos», es ist untrennbar an das Menschsein geknüpft, es ist Bestandteil der Menschenwürde. Egal wie alt dieser ist, wie reich (das Mittelalter lässt grüssen) oder wie uninformiert, kein Mensch ist illegal, und jeder Mensch hat eine Stimme. Und jetzt werden Sie lachen, aber das sagt sogar die Avenir Suisse, nämlich dass dieser Grundsatz «für eine moderne Demokratie unverzichtbar» sei. Kurz, das Stimmrecht ist prinzipiell, und all das ideologische Gedöns über die Dominanz der Gerontokratie ist eine Nebelpetarde. (Wir warten übrigens gespannt auf Ihre wissenschaftliche Erläuterung, warum man den Bürgerlichen das Stimmrecht wegnehmen müsse, weil sie seit 1848 die Abstimmungen und Wahlen dominieren.) Und ein Letztes: Dass unser Abstimmungssystem punkto Gerechtigkeit noch Luft nach oben hat, gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, neben dem offenen Benzinfass zu rauchen.

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Kreditkarten essen

Ich wiederhole mich. Aber das macht nichts. Das, was Optimist:innen «Fortschritt» in Gesellschaft und Politik nennen, ist ja in der Regel nur eine ewige Wiederholung desselben, solange reaktionäre Kräfte stärker sind. Das hab ich hier schon oft beklagt, egal ob bezüglich Energiepolitik – echt jetzt, Rösti: Atomkraftwerke!?! –, bezüglich Klimapolitik – echt jetzt, SVP: «Klimawahnsinn»!?! – oder um diverse rückwärtsorientierte Bewegungen in der Politik geht. Letzthin waren wir an der Architekturbiennale in Venedig und haben dort an gefühlt jedem zweiten Stand gelesen, dass man unbedingt mit der Natur und nicht gegen sie bauen sollte. Wahnsinn. Wenn ich dagegen in unserer Stadt herumschaue, sehe ich eher phantasielose Renditekisten. – Wir wissen längst genug, um alle global überleben und gut leben zu können. Bloss, dass das alles ein bisschen unrealistisch scheint, weil immer genügend gegenläufige Interessen im Spiel sind. Optimismus erweist sich in diesem Sinne als naiv, weil es nicht um Wissen, sondern um Macht geht.

Wie angetönt: Es gäbe dafür tausend Beispiele. Aber weil es gerade etwas untergeht unter all den schlechten Nachrichten, die wir als Medienkonsument:innen täglich verdauen müssen, möchte ich hier kurz das Plastikproblem antippen. Denn, wie Sie wissen, ist grad kürzlich, am 15. August in Genf (mal wieder, ist man versucht zu sagen), eine globale Übereinkunft der Vernunft zur Reduktion des Plastikwahnsinns – nicht zustande gekommen. Während 2022 noch sämtliche Staaten in der UNO-Umweltversammlung eine Resolution zur Beendigung der Plastikverschmutzung verabschiedet hatten, passiert nun, nach sechs Verhandlungsrunden: nichts. An der Konferenz sollen mehr Lobbyist:innen der Kunststoffindustrie teilgenommen haben als europäische Diplomat:innen (und ja, man darf sich fragen, warum überhaupt solche Leute zugelassen sind). Manche Länder integrierten praktischerweise die Lobbyfritzen grad in ihre Delegationen. Vor allem einige arabische Staaten, die sehr wohl gemerkt haben, dass das Zeitalter von Erdöl und -gas langsam zu Ende gehen könnte, setzen nun offenbar auf den Plan, wenigstens noch für die Plastikproduktion Erdöl produzieren und verwenden zu können. Aber auch die USA setzten sich an der Konferenz in Genf mehr fürs Geschäft ein als dagegen. Dabei ist eigentlich allen klar, dass es nicht nur darum geht, die Plastikverschmutzung in der Umwelt zu reduzieren und PET-Gütterli zu recyclen, sondern dass man an der Quelle ansetzen, also die Produktion reduzieren muss. Zudem wären längst schon Alternativ-Kunststoffe verfügbar oder zumindest bekannt, die aber nicht auf der Basis von Erdöl hergestellt werden, also nicht gut fürs Geschäft sind.

Die Folgen sind bekannt: Plastik, meist in Form von Mikroteilchen, die all die Giftstoffe enthalten, die in Kunststoffen drin sind, ist mittlerweile in der gesamten Nahrungskette, in der Luft und in allen Organismen nachweisbar. Wie ich einer Grafik aus dem Tagi von 2020 entnehme, essen auch Sie jede Woche 5 Gramm Plastik. Scheint nicht viel, ist aber das Gewicht Ihrer Kreditkarte. Was das in uns anrichtet, ist zwar noch nicht im Detail klar, aber gemäss der medizinischen Fachzeitschrift «The Lancet» entsteht alleine durch Krankheiten und Todesfälle durch Plastik ein jährlicher globaler Schaden von 1,5 Billionen Dollar. Dreimal winken, wer trotzdem findet, das sei ja nur eine Meinung, da sei noch lange nichts bewiesen. Optimismus ist schön.

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Sommer, Verrat, Rückeroberung

Am Anfang war das Wort, und das lautet auch dieses Jahr, wie immer nach der Sommerpause: Herr, der Sommer war sehr gross. Und wie immer spielte das Wetter verrückt, was das neue Normal ist und kaum mehr erwähnenswert, aber manchmal wird man doch noch ein kleines bisschen stutzig, etwa wenn man liest, dass es im Kanton Zürich in heissen Jahren ohne Weiteres bis zu einer halben Milliarde Franken volkwirtschaftlichen Kosten durch verringerte Arbeitsproduktivität kommt. Und da die bürgerlichen Klimaleugner:innen ja immer gerne als Schutzbehauptung die «wirtschaftliche Tragbarkeit» vorschieben, wenn es um Massnahmen gegen die Klimakata­strophe geht, würde mich schon Wunder nehmen, was an 500 Millionen weniger BIP denn wirtschaftlich tragbar ist, mal abgesehen vom Leid hinter der Zahl, denn sie umfasst auch vorzeitige Todesfälle.

Demnächst stimmen wir über eine der überflüssigsten Vorlagen ab, die es je gab, nämlich, ob sich der Kanton Zürich, obschon wir uns eigentlich bereits dafür entschieden haben, bis 2040 oder dann halt doch später, also vermutlich gar nie, in Richtung Netto Null bewegen soll. Dahinter kein Rückzugsgefecht und Verzögerungsmanöver zu sehen, fällt schwer, und es muss hier nicht gross betont werden, dass schon 2040 eigentlich zu spät ist und dass dieses Stichjahr umgekehrt ein grosser Treiber für all die wirtschaftlichen und technischen Innovationen sein würde, von denen der Kapitalismus am Sonntag ja immer schwärmt. Wenn wir aber Nein zur Vorlage sagen, wird es heissen, der Klimawahn könne noch etwas zuwarten, vielleicht ja, bis sich das alles von alleine einrenkt. Der französische Philosoph Bruno Latour nennt das in seinem «Terrestrischen Manifest» einen kaltblütigen Verrat «und zwar von denen, die den Plan, den Planeten wirklich und gemeinsam mit den anderen zu modernisieren, aufgegeben haben, weil sie vor allen anderen wussten, dass eine solche Modernisierung gar nicht möglich ist – eben weil der Planet für ihre Träume von einem Wachstum für alle nicht ausreicht». Meister darin ist, wen wundert’s, Donald Trump, der nicht nur, wie Latour meint, mit dem Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen der ganzen restlichen Welt den Krieg erklärt hat, sondern der es jüngst in einem, man muss schon sagen: wirklich ausgekochten Coup gelungen ist, Europa mit seiner Erpressung, wir müssten ihm mehr Flüssiggas abkaufen, sonst werde er uns sicherheitsmässig verarschen, sogar noch zu einem regelrechten Anti-Paris-Kurs zwingt! Chapeau.

Doch zurück zum Kanton Zürich, den wir in Anbetracht solcher und vieler weiterer Verleugnungsbemühungen wirklich langsam in unsere Finger bekommen sollten. Nächstes Stichdatum sind die Wahlen 2027, und es wäre toll zu hören, (wie das leise Gerüchte dahinsäuseln), dass nicht nur die SP mit neuen Kräften antreten will, sondern dass auch die Grünen an zwei Kandidaturen für die Regierung herumdenken. Der Zeitpunkt dafür wäre in Anbetracht all der anstehenden Rücktritte strategisch mehr als günstig, und eine Person wie zum Beispiel Marionna Schlatter wäre denkbar geeignet. Die Chancen für eine rot-grüne Mehrheit sind selbstverständlich nicht riesig, aber wie man so sagt: intakt, Martin Neukom hat’s vorgemacht. Und Sie wissen ja: Wer nicht kämpft, hat schon verloren. In Anbetracht dessen, «dass die gesamte Politik der Gegenwart auf das Problem der Klimaverleugnung fokussiert ist», um noch einmal Latour zu zitieren, wär das mehr als nur richtig. Der Kampf möge beginnen!

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Altersdiskriminierung

Vor Kurzem hat das Tiefbauamt, nach Beendigung der Velo-WM, an der Bergstrasse klammheimlich eine Mittelinsel verschwinden lassen. Ich hatte deswegen einen etwas absurden Mailwechsel mit der Verwaltung. Sie stellte sich taub. Die Insel sei nicht nötig, und man habe ja dafür die Grünphase der Fussgängerampel neu justiert. In der Tat war die Grünphase damals noch (knapp) ausreichend. Heute ist sie komischerweise kürzer, gefolgt von enormen drei Sekunden Gelbphase. Dann ist man noch mitten auf der Strasse. Und als ich vor einigen Wochen mit den Folgen eines Hexenschusses zu kämpfen hatte, war ich noch im ersten Drittel.

Ein Detail, gewiss. Aber ein schönes Beispiel für Ageism, auf Deutsch Altersdiskriminierung. (Genau genommen geht es dabei generell um Diskriminierung aufgrund des Alters, also auch um Junge. Aus naheliegenden Gründen – ich bin alt – schreibe ich hier aber über die älteren Mitmenschen.) Wie jede Diskriminierung geht es dabei um eine soziale und ökonomische Benachteiligung von Personen oder Gruppen, hier aufgrund ihres Lebensalters. Ageism beginnt in unseren Köpfen und ist tief in unserer Gesellschaft verankert. Es gilt als ‹normal›, sich alte Menschen als defizitär, also als weniger leistungs- und lernfähig, körperlich schwach, leicht vertrottelt, usw. vorzustellen. Und schlimm ist nicht, dass das alles auch hin und wieder stimmt, schlimm ist die Wertung dahinter. Denn der Benchmark ist der leistungsfähige, fitte Mitmensch, der bzw. die etwas zum Bruttosozialprodukt beiträgt – natürlich ein neoliberales Konstrukt. Natürlich ‹kosten› Junge in der Ausbildung und Pensionierte mehr als sie ‹bringen›, aufs Jahr gerechnet. Auf Jahrzehnte gerechnet, also wenn man bedenkt, dass die Alten bereits ein produktives Berufsleben hinter sich haben, stimmt das aber bereits nicht mehr – so funktioniert das mit der Diskriminierung. Auch in den Medien wird die Lebensphase Alter vor allem negativ dargestellt. Und schliesslich gibt es dramatische Ausformungen, wie etwa physische und psychische Gewalt in Pflege und Betreuung, meist verursacht durch Überforderung, oder durch die Anwendung ökonomischer Grundsätze auf das Alter. (‹Rentiert› ein neues Hüftgelenk bei einer 85-Jährigen noch?) Auch strukturell gibt es Ageism. Viele öffentliche Systeme, etwa bei Wohnen, Mobilität oder digitalen Dienstleistungen, sind nicht altersgerecht. Ältere und vor allem hochaltrige Menschen erleben hier Hürden, die ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einschränken oder verunmöglichen.

Ich bin nicht gerade zuversichtlich. Der Ageismus wird noch wachsen. Die Demografie in allen westlichen Ländern, mit ihren sinkenden Geburtenraten und der zunehmenden Zuwanderungsfeindlichkeit, spricht eine deutlich Sprache: Der Anteil an ‹unproduktiven› Menschen wird grösser, der Verteilungskampf wird härter. Vermehrt werden die verschiedenen Altersgruppen gegeneinander ausgespielt werden. Und der bereits heute vorhandene Unwille, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen, wird wohl kaum verschwinden. Denn nichts wäre eigentlich vorhersehbarer als die Bevölkerungsentwicklung, und wenn man alte Menschen nicht als Defizit, sondern als Ressource betrachtet, ist hier viel herauszuholen. Um Ageism wirksam zu begegnen, braucht es ein Umdenken, weg von falschen Vorurteilen, von defizitären Altersbildern und stereotypen Vorstellungen vom Alter, hin zu einer Kultur der Wertschätzung. Denn gell, Sie wissen schon: alt werden wir alle.

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Markige Sprüche

Drei Wochen sind nun seit der totalen Zerstörung eines ganzen Dorfes vergangen. Passiert ist: nichts. Man rühmt sich einer schnellen Evakuation – und macht markige Sprüche in Bern. Von Hintersinnen keine Spur. Und das, obwohl klar ist, dass der Klimawandel hier mitspielte, der den Permafrost auftaut, dass das also ein Untergang mit Ansage war. In den Schweizer Alpen ist die Hochgebirgs-Infrastruktur (Hütten, Lawinenschutzbauten oder Seilbahnen) oft auf Permafrost gebaut. Abstürze solcher Bauten und weitere Murgänge wie im Lötschental werden kommen. 

Den dümmsten Spruch zum Thema lieferte Albert Rösti, als er sagte, die Natur sei halt immer stärker. Was er leider zu sagen vergass: Dass wir sie oft vorher schwächen, wonach sie dann doppelt gemein zuschlägt. Zum ideologischen Hintergrund dieser Sottise hat der deutsche Historiker Philipp Blom ein erhellendes Buch geschrieben («Die Unterwerfung: Anfang und Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur»). Er zeichnet dort den Siegeszug und die verheerende Geschichte des biblischen Gebots «Macht euch die Erde untertan» nach, notabene eine Spezialität der abendländischen Kultur. Seit dem biblischen Sündenfall, der die Menschen, so die immer noch treffendste mythologische Darstellung des Vorgangs, aus der Natur katapultierte, machen wir die Natur zum Objekt – und setzen sie uns damit entgegen. Meist als Feind, immer als Ausbeutungsquelle, und es kommt nicht so darauf an, ob man den Vorgang dahinter nun als Entfremdung, als Kolonialismus, als Verobjektivierung, als Abspaltung, als Projektion oder sonst wie bezeichnet, das Ergebnis ist immer dasselbe: Die Natur ist nicht so, wie wir sie wollen und manchmal ist sie dann «stärker», nämlich dann, wenn sie uns «schadet». Wir versuchen dann, sie zu «korrigieren» und richten damit in der Regel noch mehr Verheerung an. Der Irrtum ist also uralt, er ist grotesk und nicht auszurotten. Die Natur kann gar nicht «stärker» sein, weil das keine Kategorie ist, die sie «interessiert». Ihr ist Blatten egal. (So wie dem Wolf die Schafe egal sind, aber das hatten wir schon mal. Leider helfen gegen Murgänge auch keine Abschüsse.)

Daher verharren wir auch nach Blatten in Untätigkeit. Keine Sondersession in Bern, kein Klimanotstand, wie er nun mehr als angemessen wäre, nur Geschnorr und die üblichen Süppchen, die auf dem Buckel eines ganzen Dorfes gekocht werden. Etwa vom Walliser Ständerat Rieder, der nur wenige Meter vom Schuttkegel weg wohnt und jetzt eiligst ganz viele Bundessubventionen will für den Wiederaufbau. Nur, wie die WOZ schon vor Jahren geschrieben hat, ist Rieder kein Opfer, sondern Täter: «Gemeinsam mit FDP-Ständerat Ruedi Noser versuchte der Mitte-Politiker […], die vermeintlich drohende Strommangellage für einen umweltpolitischen Kahlschlag zu nutzen.» Auch sein vermeintlicher Einsatz für den Solarexpress war mehr als nur zweideutig, denn, so die Grüne Brigitte Wolf: «Seit es uns gibt, haben wir uns auch im Wallis für eine Solaroffensive auf Dächern und bebauten Flächen eingesetzt. Die Bürgerlichen haben aber stets gebremst.» Courant normal also. Subventionen abholen, aber jaa nichts an den Ursachen ändern.

Nun, Blatten ist nicht mehr, und wird nie wieder sein, machen wir uns nichts vor. Dass ich jemals einen solchen Satz schreiben würde, habe ich vor drei Wochen noch nicht einmal geahnt. Was braucht es eigentlich sonst noch, bevor die offizielle Schweiz in die Gänge kommt?

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Gut erzogen

Als ich vor langer Zeit in die Politik ging, hab ich mir eigentlich geschworen, nicht auf jeden sauren Görps zu reagieren, denn davon wird man stigelisinnig. Als einmal ein Bürgerlicher etwas angesäuert meinte, wir Grünen täten ja gar nicht politisieren, sondern wir wollten einfach nur die Welt erziehen, hatte ich daher nur gedacht, was ist denn dem übers Leberli gelaufen und machte mir keinen Kopf. Hätt’ ich aber wohl lieber sollen, denn heute liest man solcherlei Quark bereits als unhinterfragten Fakt in den Qualitätsmedien – gell, Sie wissen schon, dass ich diesen Begriff seit Jahren ironisch verwende? Das P.S. kann eben keine Zwinker-Smileys – und die Linken, vorab die Grünen, gelten mittlerweile als wahre Moralmonster.

Das ist blühender Blödsinn, aus drei Gründen. Erstens, weil’s eine Killerphrase ist, man kann jeder politischen Forderung einen Erziehungsversuch unterstellen, ein Gegenbeweis ist unmöglich. Denn zweitens stimmt es selbstverständlich, und drittens tun das alle. Der Vorwurf, dass man in der Politik die Leute erziehen wolle, kann gar keiner sein, weil Politik unter anderem darin besteht, gesellschaftliche Strukturen, und damit die Menschen zu beeinflussen, sprich zu verändern. Und das dürfen Sie «erziehen» nennen oder sonst wie, ist mir wurscht, jedenfalls ist der Vorwurf etwa so sinnvoll, wie wenn ich der Bäckerin vorwerfen würde zu backen. Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen ist die einzige raison d’être aller politischen Parteien. Wer keinen Einfluss hat, stinkt ab. So einfach ist das, und die Weinerlichkeit, mit der auf banale Forderungen reagiert wird, wie etwa die, dass auch Filmfestivals oder Seenachtsfeste vielleicht bitte schön mal etwas gegen den Klimawandel beitragen könnten, ist nur peinlich. Klimaschutz steht nun mal in unserer Verfassung, und die gilt für alle. (Was jetzt im Umkehrschluss natürlich nicht heisst, dass alle grünen Ideen Ausgeburten purer Vernunft sind…)

Ich möchte allerdings nicht falsch verstanden werden: Ich hab, empathisch, wie wir Erzieher nun mal sind, alles Verständnis für den Vorwurf, denn er ist zwar Quatsch, aber immerhin nachvollziehbarer Quatsch. Er erinnert mich an meinen Sohn, als er etwa drei Jahre alt war, wenn er sich vor mich hinstellte und ganz vorwurfsvoll sagte: «Immer willst du befehlen!» Damit hatte er mich ertappt. Kindererziehung ist hin und wieder voll die Repression, etwa beim Thema «Dürfen Kinder sich ausschliesslich von Glace ernähren?» Oder: «Darf ich überprüfen, ob man Autopneus, auch seehr viele Autopneus, mit Hilfe eines Zweigleins lüfteln kann?» Auf ähnlichem Niveau sind manchmal die Reaktionen bürgerlicher Politiker:innen, wenn man sie sanft, aber gemein darauf aufmerksam macht, dass gewisse Verhaltensweisen halt heutzutage gesetzeswidrig sind. Und das dürfen Sie erziehen nennen oder sonst wie, ist mir wurscht, aber das sagte ich glaubs bereits schon.

Erwähnenswert ist die ganze Aufregung nur, weil solche Märchen, lange genug wiederholt, leider wirklich wirken, denn auch dieser Wahnsinn hat Methode. Man kann damit zum Beispiel politisch korrekt für Netto-Null sein, aber bei jeder Massnahme, die dann öffentlich vorgeschlagen und diskutiert wird, lauthals «Erziehung» schreien. Dass wir unser Verhalten in den kommenden Jahren gewaltig ändern müssen, ist aber, Gejammer hin oder her, allen bewusst. – So, und jetzt hopp, mixen Sie sich eigenverantwortlich einen veganen Smoothie und lesen Sie das P.S.! Beides ist gesund.

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Einhausen für Dummies

In der folgenden Geschichte, ich schwör beim Barte des Verkehrsministers, ist jedes Wort wahr: Vor vielen Jahrzehnten besuchte ich übers Wochenende eine ehemalige Studienkollegin in Vaduz, die dort eine Gymilehrerinnenstelle angetreten hatte. Sie zeigte mir ihre Arbeitsstätte, einen modernen Zweckbau ganz in Stahlglasbeton – mit einem kleinen Schönheitsfehler: Irgendein Chaot hatte wohl gedacht, er müsse ein bisschen den 80er-Bewegten raushängen, und er sprayte mit Farbe irgendeinen Slogan, sagen wir: «Punk not dead», ins Treppenhaus an die Betonbrüstung. (Für «Fürst, du Globi» fehlte ihm offenbar der Mut.) Die Schulleitung fand das gar nicht gut und beauftragte den Hauswart mit der Entfernung der Schmiererei, und dieser, in solchen Dingen nicht so bewandert, wird es zwar mit Javelwasser und Schwamm versucht haben, aber Spray auf Beton ist eben nicht Öl auf Leinwand, und so sah er ein, dass er zu gröberen Mitteln greifen musste. Er besorgte sich ein Sandstrahlgerät und putzte, fein säuberlich die Buchstaben präzise nachzeichnend, die Inschrift weg: Aufgabe erledigt. Und so steht, vielleicht bis heute noch, eingemeisselt an dieser Mauer «Punk not dead» oder so.

Sie können jetzt schon lachen, aber Tatsache ist, dass genau dasselbe, wenn auch etwas voluminöser, morgen in Zürich-Schwamendingen eingeweiht wird. Denn vielleicht ebenfalls in den 80ern kam irgend so ein Strassenbeamtenchaot in Bern auf die Idee, man könnte doch dieses Quartier mit einer Autobahn entzweischneiden. (Wir haben das übrigens mal im Rahmen eines Forschungsprojekts in Winterthur-Töss am Beispiel der Zürcherstrasse erforscht, und ich kann Ihnen bestätigen: Es gibt in der Tat nichts Besseres als eine mehrspurige Strasse – wenn Sie ein Quartier kaputt machen wollen.) Jahrzehnte später, als die Klagen dann doch zu gross wurden, kam ein würdiger Nachfolger des Volldeppen auf die gloriose Idee, man könnte doch die Strasse mit einer Schuhschachtel überdecken, die haargenau dem Strassenverlauf folgt, und so die Riegelfunktion noch in der dritten Dimension hervorhebt. Gesagt, getan. Und so steht heute eine in kleidsamem Waschbeton ausgeführte Einhausung mitten und sehr trennend im Quartier. Ausser dem Lärm, der tatsächlich verschwunden ist, ist rein gar nichts besser als zuvor. Das ganze nennt sich trotzdem Stadtreparatur. Eine der Pointen: Es gelang immerhin, den Bund, der das bezahlt, zu überzeugen, eine speziell dicke Betondecke zu bauen, auf die man speziell viel Erde schaufeln kann, in die man dann richtige Bäume pflanzen kann. Und weil die Hässlichkeit des Bauwerks dann doch auch den Verantwortlichen aufgefallen ist, beschlossen sie, die Wände der Schachtel zu begrünen, was eine rechte Herausforderung ist. Nennt sich dann wohl: Reparatur der Stadtreparatur. Und noch eine Pointe: Nachdem die Quartierbevölkerung jahrzehntelang gelitten hatte und sich schon auf zumindest ruhigere Zeiten freute, geschah das, was in Zürich immer passiert, wenn die Autos wegspediert werden: Der Bodenpreis explodierte, und sozusagen alle Häuser links und rechts der Strasse werden abgerissen und neu gebaut: Bevölkerung weg, Gentrifizierung da.

Sie können jetzt schon lachen, aber: Das ist der Alltag in der Raum- und Verkehrspolitik in diesem Land. Statt weniger Autos, wie vom Gesetz eigentlich vorgeschrieben, oder mindestens einer Tieflegung unter den Boden baut man Schachteln, was am einfachsten ist. Quasi Sandstrahlen für Verkehrspolitiker.

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Abschlachten

Die Geschichte ist so alt, dass ich selber nicht mehr weiss, woher ich sie habe: Der amerikanische Präsident (und vermutlich auch sein russisches, französisches, chinesisches etc. Pendant) werden von einem Menschen mit einem Atomköfferchen begleitet. Dieses enthält den Code, mit dem die Welt vernichtet werden kann. Bei passender Gelegenheit pfeift der amerikanische, russische, chinesische etc. Präsi also den Köfferlimenschen zu sich, nimmt den Code – und lässt die Welt untergehen. Diese obszöne Fallhöhe zwischen der Leichtigkeit des Kofferöffnens und der Vernichtung der Menschheit hat irgendeinen Schlaukopf auf eine Idee gebracht: Angemessener wäre es, wenn die Weltzerstörer von einem Freiwilligen begleitet würden, der in seinem Koffer nicht den Atomcode, sondern ein scharfes Messer trägt; den Code hat er implantiert in seiner Brust. Will der Präsident die Welt in die Luft jagen, muss er mit dem Messer zuerst – immerhin! – einen Menschen selber umbringen, aufschlitzen, den Code entnehmen, und erst dann kann er den Rest der Menschheit erledigen, denn machen wir uns nichts vor, Atomkriege sind nicht eindämmbar. Se non è vero, è ben trovato, und die Geschichte, so zynisch sie ist, entbehrt nicht einer tieferen Wahrheit.

So erstaunte es mich nicht gross, dass die Qualitätszeitung als letzten Aprilscherz die Geschichte kolportierte, dass im stillgelegten Schlachthof zu Züri ein Showroom eingerichtet werden solle, in der die Schulkinder der Schlachtung eines Säuli beiwohnen könnten, so mit allem Drum und Dran, was halt notwendig ist, falls wir Schnitzel und Wurst essen wollen. Alltag für Landleute, Fremdheit für fleischfressende, aber nicht selber metzgende Stadtkinder. Vermutlich hat es so manche getschuderet bei der Lektüre, aber was will man: War ja irgendwie logisch und konsequent.

Und nun muss ich Ihnen gestehen, dass ich darin selber Erfahrung habe: Mein Götti war Grossviehtierarzt auf dem schwäbischen Land, und ich hab so manche Ferien bei ihm verbracht. Er nahm uns Kinder grosszügig mit auf seine Touren, und so kam ich in frühester Kindheit, mit grossen Augen in der Stalltüre stehend und weder von einem Careteam, noch sonst wie betreut, denn mein Götti war ja selber Akteur, in den Genuss seltener Vorführungen wie etwa einer Embryotomie (bitte später nachschlagen, sonst kotzen Sie jetzt), diverser Ferkel-Kastrationen, von künstlichen Besamungen, die so gar nichts Romantisches an sich haben, und, ja, auch von einer Notschlachtung einer Kuh in einem weissgekachelten Schlachtraum neben einem Bauernhof. Halt alles, was die kapitalistische Verwertungslogik so mit der Ware Tier anstellt. Ich hab noch jedes Detail in Erinnerung, und was soll ich Ihnen sagen – ich bin weder traumatisiert, noch waren wir damals schockiert, noch war ich im Nachhinein entsetzt darüber, was ich da erlebte. Ich hätte ja wegrennen oder die Augen schliessen können. Tat ich aber nicht. Ich war schlicht nur fasziniert. Und da sich mein Götti, ganz der miserable Kleinunternehmer, gerne mal in Naturalien bezahlen liess, ernährte ich mich in diesen Ferien alles andere als vegan, auch nach gehabter Vorführung.

Ich lass das mal so stehen. Eine Moral der Geschicht’ gibt es, wie immer, nicht. Ausser vielleicht beim aktuellen amerikanischen, russischen etc. Präsidenten, denen ich locker zutrauen würde, dass sie das mit dem Abschlachten mit links erledigen täten. Und das schockiert mich dann schon eher.

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Wa de Konsumänt will

Der Mist ist geführt. Ritter ist über seine eigenen Füsse gestolpert. Er, dessen Lieblingssatz «de Konsumänt will da» lautet, musste zur Kenntnis nehmen, dass die Konsumänten (und ganz besonders die in seinem Reich nicht vorkommenden Konsumentinnen) ihn nicht wollten. Ein güllegesprenkelter Macher im Edelweisshemmli, der sich hinter «dem Konsumenten» versteckt, wenn er zum Beispiel erklären sollte, warum die Bauernsame Gift über der Landschaft und damit im Grundwasser verteilt, hat nicht einmal fürs VBS genug Glaubwürdigkeit. Er, der Biobauer, schwadronierte dann jeweils, dass de Konsumänt eben ein diverses Wesen sei, das nicht nur bio wolle, weshalb man für alle, und nicht nur für wenige produzieren müsse. Auch im Geld-und-Gülle-Kapitalismus sind immer die anderen schuld.

Man könnte eine ganze Serie von Kolumnen schreiben über solche Mythen und (Selbst)Betrug im Marktglauben. «De Konsumänt will da» ist nur eine davon. Im gleichen Boot sitzt übrigens der Verwaltungsratspräsident der Post, Christian Levrat. Er führte jüngst mustergültig vor, wie man das macht: Zuerst Poststellen schliessen, aus Spargründen natürlich, leider absolut unvermeidlich. Danach, nach einem Verschnaufpäuschen, lautstarkes Gejammer, die Leute würden immer weniger am Schalter einzahlen und auch keine Briefe mehr einwerfen und Päckli aufgeben. (Wo denn auch, wenns immer weniger Schalter gibt?) Also müsse er, Levrat, so leid es ihm tue, noch mehr Poststellen schliessen. Dazu fällt mir ein deutscher Witz ein, der über einen früheren Postminister kursierte: «Was macht Postchef Christian Levrat des morgens in seinem Büro? – Er erledigt die Post.» Man betrügt sich selbst und andere, wenn man jedes Marktversagen einseitig den Konsument:innen, also der Nachfrage, in die Schuhe schiebt. Wie wenn diese nicht sehr wohl gesteuert wäre, mit Marketing, Werbung, Influencing – oder mit Poststellenschliessungen. Die Werber:innen bestreiten natürlich jegliche Manipulationsabsicht und sagen, dass dies getreu dem liberalen Menschenbild ja auch gar nicht ginge. 

Chabis! Wenns nicht funktionieren würde, würde man nicht Millionen in dieses Gewerbe stecken. Selbstverständlich werden Bedürfnisse geschaffen! Vergiftetes Grundwasser letztlich also «em Konsumänt» unterzujubeln, ist daher der Schritt vom Selbstbetrug zur Lüge.

Allerdings gibt es diese Tendenz zum Abbau von Serviceleistungen an vielen Orten. Man muss ja nicht gleich bis in die USA oder nach Argentinien reisen, um das Phänomen studieren zu können. Und wenn sich auch ein Vergleich mit den dortigen Zuständen gewiss verbietet, frage ich mich manchmal, ob der Abbau beim Service public, der auch bei uns, auch in der Stadt Zürich, stattfindet, nicht doch eine Art Kettensägemethode ist, im Stil einiges eleganter, aber im Effekt letztlich ähnlich. Auch in Zürich verschwinden Kreisbüros, Polizeiwachen, Billetautomaten usw., was nicht nur, aber vor allem die ältere Bevölkerung diskriminiert. Diese Konsument:innen wollen das ganz bestimmt nicht, aber wen kratzt das. Und die Digitalisierung, die als Ersatz propagiert wird, ist in vielen Fällen ein Hohn. Aber den Kapitalismus mit einer feinziselierten Analyse über seine Widersprüche belehren zu wollen, ist im Zeitalter des anarchischen Grobianismus unnötig und irgendwie noch hilfloser geworden als vorher. Inte­ressant ist immerhin, dass beim Ritter von der traurigen Denkart die Allianz von Geld und Gülle für einmal abgestunken ist.

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Neutral?

Im Kunstmuseum Aarau ist gerade eine Ausstellung zur Neutralität zu sehen, wobei sich diese nicht nur auf den politischen oder gar militärischen Aspekt bezieht, aber auch. Im Vorraum bei den Garderobekästchen kann man einen Test zu seiner Einstellung zum Thema machen und bekommt dann ein Resultat ausgespuckt, das in 4 Quadranten eingeteilt ist. Einer davon heisst: «Neutralität gibt es nicht.» Und dann darf man sich einen Schwiizerchrüüzli-Kleber nehmen und den in ein grosses 4-Quadrantenfeld an der Wand kleben. Einmal raten, wo mit Abstand am meisten Kleber kleben.

Die Schweiz, dieses Land im Reformstau, das nach 177 Jahren bürgerlicher Mehrheiten in Parlament und Exekutive gründlich in der Sackgasse steckt, hätte eine breite und vertiefte Debatte über Neutralität dringend nötig. Interessiert aber keine Sau. Ausser ein paar Versatzstücken aus der Mottenkiste (Niklaus von Flüe!) hört man kaum Nützliches oder Innovatives dazu. Unsere Bundespräsidentin entblödete sich letzthin nicht, eine antidemokratische und antischweizerische Rede von J. D. Vance als demokratisch und schweizerisch zu bezeichnen. Darauf zur Rede gestellt, wollte sie das aber gar nicht als Positionsbezug verstanden wissen. Das deutet auf eine zweite Problematik hin: Dass man in den Momenten, in denen man die Leerformel Neutralität mit Rückgrat füllen könnte, nicht über Verlogenheit hinauskommt. Dabei beginnt es schon mit dem militärischen Aspekt, wo «haltet euch aus fremden Händeln heraus» die Spitze der Expertise zu sein scheint. Ob die aktuellen «Händel», ob europäisch oder global, überhaupt noch als «fremd» angesehen werden können – egal. Und ob wir uns wirklich daraus fernhalten, wenn wir nichts tun, etwa bei Sanktionen – egal. Schon hier zeigt sich, dass es in vielen Konfliktsituationen gar keine Neutralität geben kann. Ein Positionsbezug ist immer schon da, vor allem auch dann, wenn keiner erfolgt.

Es ist schon erstaunlich, wie wenig wir beachten, dass wir geografisch mitten in Europa liegen. Aber die Geografie ist ja im digitalen Zeitalter oder, wenn Sie’s faustdick brauchen: im Zeitalter der Interkontinentalraketen ohnehin, genau: egal. Wenn also, nur so als Beispiel, der Russe im Rahmen einer versteckten «militärischen Spezialoperation» das europäische Stromnetz lahmlegt, was glauben Sie, ob das auch uns betrifft oder nicht? Eher nicht, weil wir ja neutral sind? – Ökonomisch gesehen erleben wir seit den 90ern des letzten Jahrhunderts die, genau: Globalisierung. Zumindest für Waren, Dienstleistungen, Geld, Umweltzerstörung und Klimaerhitzung, etwas weniger für Recht, Solidarität oder Gleichheit. Neutral kann in einer solchen Situation gar niemand sein, es gibt Gewinner und Verlierer, die Konzerninitiative hat das, falls überhaupt noch nötig, deutlich gezeigt. Auch die Schweiz beteiligt sich eifrig am globalisierten Handel, (was ja auch sprachlich nicht so weit von «Händel» entfernt ist). Und kulturell gesehen sind wir, waren wir, werden wir immer sein: ein Bestandteil des Westens. Klar Partei.

Die Neutralität nach Niklaus von Flüe war vielleicht im Konflikt zwischen Kain und Abel noch zu rechtfertigen und auch vielleicht ein cleverer Schachzug um 1848, der das junge Staatswesen etwas aus der Schusslinie hielt, aber was daraus wurde, diese institutionalisierte Vogel-Strauss-Haltung, viel Opportunismus und Rosinenpickerei, das führt uns nicht aus der Sackgasse. Nur, zuerst müssten wir das mal erkennen und beginnen, offen darüber zu reden. Am besten ergebnisoffen.

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