Artikel, p.s. Zeitung

Über Befindlichkeiten

Menschen werden bei ihren Entscheidungen eher von ihrer Befindlichkeit und von Emotionen geprägt als vom Verstand. Gekauft. Wissen wir längst. Aber im Moment übertreibt man es ein bisschen damit. Auch Menschen, die eigentlich wissen, wie unsere drei Säulen der Altersvorsorge funktionieren, oder was ein Umlage-, sprich Solidarsystem ist, kolportieren Unsinn, wie etwa den von der «Giesskanne». Das ist gefühlt richtig, aber rational falsch. Neun von zehn Menschen erhalten mehr AHV-Rente, als sie einbezahlt haben. Die Differenz bezahlte ihnen Christoph Blocher. Das ist ein effektiver und erwünschter sozialer Ausgleich. Wer sich darüber aufregt, dass auch Blocher einen 13. bekommen soll, kann sich genauso gut darüber empören, dass auch Blocher im Herrliberger Grossverteiler vom Aktions-Rindsfilet profitiert. Giesskanne überall, nur dass es bei der AHV für viele Menschen ums Überleben geht. Es ist nachvollziehbar, wenn die eigene Befindlichkeit als Handlungsanleitung dient, aber wer sagt, «ich brauche keine 13. Rente», der meint ja eigentlich: «Weil ich sie nicht nötig hab, sollen auch alle anderen keine haben», und das ist nur noch schäbig, und nicht etwa verantwortungsbewusst, wie uns der Altbundesrat weismachen will. 

Irre ich mich, oder wird Politik immer irrationaler? Geht die Vernunft als Handlungsanleitung flöten? Hat sich Donald Trump als «role model» des politischen Handelns auch bei uns durchgesetzt? Was, zum Henker, ist an einem Versicherungssystem so schwierig zu verstehen? (Einmal raten, wofür das «V» in «AHV» steht!) Hab ich jemals in meinem ganzen Leben eine Wasserschadenversicherung benötigt, hä? Und trotzdem finde ich nicht, dass man sie abschaffen soll. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Politik ohne eigene Befindlichkeit ist nicht toll, sondern abgehoben. Aber nur die eigene Befindlichkeit als Richtschnur ist schlimmer.

Zudem: Niemand merkt, dass wir diese ganze elendige Debatte nur darum führen, weil die «Wissenschaft» namens Ökonomie die unbezahlte Arbeit wie immer ausblendet. Gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen muss man 44 Jahre faktisch zu 100 Prozent bezahlt arbeiten, um eine Maximalrente zu erreichen! Nur so können Sie das Versprechen der Bundesverfassung, dass die AHV zum Überleben ausreicht, so einigermassen einlösen. Das ist aber eine Berufskarriere, die kaum jemand vorweisen kann, schon gar nicht Menschen mit einer verlängerten Ausbildung, einer Babypause, Arbeitslose, Krankheitsbetroffene, Eltern etc. All diese Leute waren nicht faul, sondern sie haben zum grossen Teil unbezahlt gearbeitet, vorab in der Carearbeit. Vermutlich kann man ruhig behaupten, dass nicht nur die aktuell 30 Prozent der Berufstätigen, sondern 80 oder 90 Prozent eine Maximalrente zugut hätten. Wenn denn das BIP wirklich richtig berechnet würde. Aber wer unbezahlt arbeitet, hat auch keine Abgaben entrichtet und bekommt daher auch keine Rente. Das nennt man dann «fair». Man kann’s aber auch Verfassungsbruch nennen.

Abstimmungskampagnen werden zunehmend faktenfreier, wie Daniel Binswanger in der ‹Republik› feststellte. Es soll eine uralte biologische Einrichtung von uns Menschen sein, dass wir Angst vor dem Unbekannten haben, weil nur solche In­stinkte das Überleben sicherten. Das wird grad von der Gegnerschaft einer 13. AHV-Rente tüchtig ausgenutzt. Es gilt aber dennoch: Wer will, dass die AHV auch künftig eine tragende Säule der Altersvorsorge bleibt, muss ein JA zur 13. Rente einlegen.

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