Die Debatte um Cancel Culture und die heraufbeschworene «moral panic» sind generell absurd bis lächerlich, vor allem auch, wenn es um die Hochschulen geht. Die Wissenschaftsfreiheit ist zwar in der Tat immer wieder in Gefahr, aber nicht durch ein paar Leute, die Vorträge verhindern. Wer das behauptet, lenkt von den realen Einschränkungen der Wissenschaft ab. Ich habe über ein Vierteljahrhundert in der anwendungsorientierten Forschung und Entwicklung gearbeitet. Das ist eine Phase innerhalb der Wertschöpfungskette des Wissens – doch, doch, so etwas gibt es –, die zwischen der Grundlagenforschung und der Markteinführung von Produkten und Dienstleistungen liegt. Ich habe ein interdisziplinäres Hochschulinstitut mitgegründet und geleitet, war also letztlich für die Forschungsakquisition verantwortlich und kenne die Abläufe. Cancel Culture war nie meine Sorge.
Es ist die Machtfrage, die wie immer eine zentrale Rolle spielt. Wer ernsthaft behauptet, dass ein paar Antifa-Leute, die eine Vorlesung stören, die Macht hätten, den Wissenschaftsbetrieb lahmzulegen, verrät seine Ahnungslosigkeit. Wer diese Macht aber hat, sind die Finanzierungsstrukturen der Forschung, und es sind die Kommunikationsstrukturen und das dort herrschende Oligopol. «Wissenschaftsfreiheit» ist ein hehres Wort, aber wer seine wissenschaftliche Tätigkeit nicht finanzieren kann, kann einpacken. Mein grösster Druck als Institutsleiter kam von der Buchhaltung, schlaflose Nächte hatte ich nur, wenn eine wichtige Eingabe für ein Forschungsprojekt wieder einmal gescheitert war und eine Lücke im Budget drohte. Wer nicht grad optimal in das aktuelle Programm des Nationalfonds passt, wer das Pech hat, an einer Hochschule zu forschen, die unlängst mehrmals berücksichtigt wurde und daher nun wieder etwas zuwarten muss, oder wer unter einem Bundesrat leidet, der kein Forschungsabkommen mit der EU zustande bringt, kann am leeren Daumen saugen. Oder Leute entlassen. It’s the economy, stupid.
Der andere grosse Machtkomplex, der die Wissenschaftsfreiheit im Würgegriff hat, sind die Institutionen beim Umgang mit Daten, Informationen und Wissen. Nicht umsonst heisst es in der Wissenschaft: «publish or perish». Die einzige anerkannte Währung ist die Publikation, möglichst in einem angesehenen Medium. Der Weg dazu ist oft intransparent, immer extrem aufwändig – und der Anbietermarkt ist ein Oligopol. Weltweit gibt es, auch in Zeiten von Open Access, gerade mal 3 (richtig: drei) Grossverlage, die sich den Kuchen aufteilen. Die Preisgestaltung von wissenschaftlichen Journalen ist dadurch geprägt, dass alle Hochschulbibliotheken solche Publikationen führen müssen, dass alle Forscher:innen solches Wissen möglichst lückenlos verarbeiten müssen, dass also die Nachfrageseite kaufen muss und keine freie Wahl hat. Es ist wie beim Wohnen. Und wird ebenso schamlos ausgenutzt.
Es ginge noch weiter mit den Gefahren, zum Beispiel die Überforderung durch die schiere Informationsmenge, aber mir fehlt hier der Platz, um das auszuführen. Deshalb also: ja, die Wissenschaft ist in der Tat gefährdet, und die öffentliche Forschung ist nicht so frei, wie sie sein sollte. Aber das liegt nicht an einer irgendwie ausgearteten «Culture», sondern halt wieder einmal am guten alten Kapitalismus, der es auch in der Wissenschaft schafft, alles zur Ware verkommen zu lassen. «Kultur abschaffen», wie man «Cancel Culture» übersetzen könnte, ist da allerdings gar nicht mal so falsch.
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