Artikel, p.s. Zeitung

Definiere «Gewalt»

Natürlich geht es überhaupt nicht, anlässlich einer Demo beinahe ein Haus abzufackeln. Ebenso niveaulos ist die bürgerliche Retourkutsche in Form von teilweise rechtlich kaum haltbaren Massnahmen gegen den «Linksextremismus». Noch bevor bewiesen ist, wer den Brand verursacht hat oder bevor irgendjemand rechtskräftig aufgrund der Demo verurteilt wurde, wird scharf zurückgeschossen – Unschuldsvermutung und Rechtsstaat hin oder her. Aber so ist das eben mit der Gewalt. Man muss sie auch sehen können, und das ist manchmal keine Frage des Feingefühls, sondern eine reine Frage der politischen Definitionsmacht.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich verurteile Gewalt, auch im politischen Kontext, immer und überall – mir geht es hier aber nicht um Gewaltanwendung, sondern um die Debatte darüber, und die beginnt mit der Wahrnehmung und kann zudem selber gewaltsam geführt werden. Da sind bürgerliche Kreise genauso beteiligt, ja ich würde sogar sagen, dass sie bestimmte Formen der Gewalteskalation wesentlich besser beherrschen als andere. Gewalt beginnt bekanntlich bei den Strukturen und sie zeigt sehr viele physische und psychische Formen im Alltag und in der Politik. Ein unerträgliches Beispiel wurde letzte Woche von Andrea Sprecher in ihrer Kolumne zu den Gaza-Kindern benannt, (von der ich jedes Wort unterschreiben kann): Der regierungsrätliche Zynismus, so harmlos und gesetzestreu er daherkommt, erscheint als primitiver Macht- und damit Gewaltakt. Ich erinnere mich an einen Tagesschau-Beitrag vor zwei, drei Wochen zum Thema, in dem auch eine Gegnerin zu Wort kam, eine SVP-Nationalrätin, und sie stand da mit einem netten Gesichtsausdruck, und dann machte sie so ganz kleine Säuliaugen und erklärte ganz freundlich, das mit den Kinder möge vielleicht ja noch angehen, aber «der Anhang!», der «aus völlig anderen Welten komme», der sei zu viel. Und sie liess bedeutungsschwanger offen, was daran zu viel sei, aber man ahnte, dass dieser «Anhang» sofort die Wäsche von den Leinen klauen, sich in unser Sozialsystem einklinken und am nächsten Samstag den Lottosechser abräumen würde. Mindestens. Und die Frau mit den Säuliaugen hatte grosses Glück, denn wenn sie leibhaftig vor mir gestanden wäre, dann hätte ich ihr wohl spontan eine reingehauen, und da wäre sie dann wieder gewesen, die rohe Gewalt der Linken und deren Verachtung der freien Rede.

Die öffentliche Debatte über Gewalt ist oft kindisch, eher so «iich nöd, er au», sie nützt aus, dass bei vielen Konfliktlinien schon lange nicht mehr auszumachen ist, was Huhn oder Ei ist, weil sich Konflikte häufig über Jahre und Jahrzehnte (Gaza!) aufschaukeln und anhäufen und Schuldzuweisungen zwangsläufig zu nichts führen. Was mich in solchen Dingen aber stark beschäftigt, ist das Phänomen, wenn eine Konfliktpartei dabei leise und scheinbar nett und ständig im Rahmen der Konvention bleibt, aber ständig provoziert und eskaliert, (wir haben im Schweizerdeutschen dafür das schöne Wort «zeukeln»), und damit die Situation anheizt und zur Explosion bringt, wonach man sich dann wieder im Brustton der Empörung über den gewalttätigen Gegner beklagen kann. Der «diskrete Charme» der Bürgerlichen paart sich dabei mit einer ebenso diskreten und gut gepflegten Gewaltkultur, die sofort «Haltet den Dieb!» schreit, wenn ein Haus brennt, aber nichts dagegen hat, wenn ja nur gezeukelt wird. Natürlich rechtfertigt das keine Brandstiftung. Aber es erklärt sie eventuell.

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